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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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den niedrigsten Kosten unter die Erde zu bringen.
    Der Boden ist modrig, zwischen den Steinen weiden Schafe. Ich bin am unteren Ende der Stätte angekommen.
    Und da plötzlich tollt vor mir, wie aus dem Boden geschossen, eine Stute mit ihrem Fohlen über die angrenzende Wiese, prescht heran, fegt zurück, immer dicht gefolgt von dem Pferdekind, beide irre vor Bewegungstrieb, wie die unsterbliche Kraft der Kreatur selbst!
    Es ist ein atemberaubender Moment, ein Trost ohnegleichen, gerade an dieser Stätte.
     
    Als 1850 die Kartoffelpest ausbleibt, ist etwa eine Million Irinnen und Iren verhungert, darunter drei Fünftel der Kinder unter zehn Jahren und der Erwachsenen über sechzig. Von 1845 bis 1851 geht die irische Bevölkerung von acht auf etwas über sechs Millionen zurück, auch durch Auswanderung.
    Historiker glauben, daß sich durch die kollektive Hungererfahrung der irische Volkscharakter verändert habe. Die cheerfulness wich einem Fatalismus, der sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten sollte.
    Und in der Tat - The Great Famine wird nichts so lassen, wie es war.
    Die landwirtschaftlichen Strukturen sind schwer angeschlagen, viele Großgrundbesitzer bankrott, sechs von ihnen ermordet, die Landarbeiter als Klasse so gut wie vernichtet.
    Durch den Ausfall der Pacht sind viele Landlords gezwungen, Boden zu verkaufen. Zum Handeln gezwungen, stellt die britische Regierung dafür Mittel zur Verfügung. Das bedeutet die Übergabe von Grundbesitz in die Hände vieler Bauern. Das Agrarsystem und seine Besitzverhältnisse ändern sich.
    Auch hat der Große Hunger politische Folgen. Geheimbünde und nationalistische Bewegungen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Forderung nach home rule , irischer Selbstverwaltung unter britischer Aufsicht, verbreitet sich. Die Church of Ireland, Staatskirche des britischen Protestantismus, verliert gegenüber der unterdrückten katholischen Kirche ihren Sonderstatus.
    Die einschneidendste Veränderung aber, und die nachhaltigste Folge des Großen Hungers, wird die Massenauswanderung der Überlebenden - nach England, Amerika, Australien.
     

Im Sargschiff über den Atlantik
     
    Schon während der Hungerperiode hatte ein wahrer Exodus eingesetzt - von 1846 bis 1850 verlassen 1,2 Millionen Irinnen und Iren die Insel. Danach wächst der demographische Aderlaß noch an, wird Irland zu dem Auswanderergebiet schlechthin, eine Tendenz, die erst in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts gestoppt werden wird. Irland ist der einzige Staat in Europa, ja wahrscheinlich in der ganzen Welt, in dem heute weniger Menschen leben als im 19. Jahrhundert - vier Millionen heute gegenüber acht Millionen im Jahr vor der Kartoffelpest, 1844. Das heißt: Der Große Hunger hat die irische Nation bis in unsere Gegenwart halbiert.
    Das Elend der Zwangsemigration steht für viele Auswanderer dem des Großen Hungers kaum nach.
    Noch im Zeitalter der Segelschiffe, dauerte eine Atlantiküberquerung um 1850 rund einen Monat. Wie Baumwollballen verstaut, ohne Rücksicht, Anteilnahme, Mitgefühl seitens der Kapitäne und Mannschaften, eingesperrt unter Deck, wo niemand kochen konnte und jede Wärme fehlte, sah es für die Passagiere auf den Emigrantenseglern nicht viel anders aus als auf einem Sklaventransporter vergangener Zeiten. Wasser und Nahrung waren verfault, sanitäre Einrichtungen ein Wunschtraum, gewalttätige Mitreisende so häufig wie die grassierende Seekrankheit. Coffin ships wurden die Schiffe genannt - schwimmende Särge, und das zu Recht. Nicht so sehr, weil Schiffe sanken (das gab es auch, wurde ausführlich kommentiert und sorgte für zusätzliche Ängste), sondern wegen mangelnder Versorgung während der Überfahrt. So auf der Barke »Elisabeth and Sarah«, die im Juli 1846 vom County Mayo nach Kanada segelte (mit 276 Personen anstatt 212 auf der Passagierliste). 32 Kojen für alle, zuwenig Wasser, kaum Nahrung. Da der Kapitän einen falschen Kurs genommen hatte, dauerte die Reise acht Wochen. Als die Barke im September am Ufer des St.-Lorenz-Stroms festmachte, waren 42 Menschen gestorben.
    Mehr Opfer aber noch forderten die sogenannten Passengers Acts der verschiedenen Aufnahmeländer, Gesetze, die niemanden an Land ließen, der kein Geld hatte oder keine einheimischen Unterstützer nachweisen konnte. Die Ausbootung der Passagiere wurde verweigert, oft wochenlang. Einmal ankerten an den Ufern des St.-Lorenz-Stroms auf einer Strecke von fünfzig Kilometern vierzig

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