Mein irisches Tagebuch
Schiffe, deren Insassen die Einreise verwehrt wurde. Hunger und Fieber rafften die Menschen nur so dahin. Sie starben unter Deck und wurden über die Reeling gekippt.
Im Ulster American Folk Park von Omagh, County Tyrone, Nordirland, einem Museum für die Auswanderungsgeschichte von Ulster, ist das Innere solcher coffin ships nachgebildet. Beim Anblick der Decks und Kojen, je zwei übereinander, dachte ich unwillkürlich an die Baracken von Straflagern, wie die Gewaltregime unseres Jahrhunderts sie so inflationär gezeugt haben - Verschläge, Ställe für Menschen, niedrige Pritschen, die bei Seegang wahre Kotzhöllen gewesen sein müssen.
Der Große Hunger war die Auslösung jener irischen Diaspora, die, weit zahlreicher als die Bevölkerung in Irland selbst, heute über die ganze Welt verstreut ist und in den USA ihre größte und einflußreichste Gemeinde hat. Aber wo immer Iren leben, ihr Habitus ist so unverwechselbar wie ihre enge emotionale Bindung an die einstige Heimat auch nach Generationen noch unversehrt.
Es hat eines Menschenalters bedurft, bis sich die irische Gesellschaft von den schlimmsten Folgen des Großen Hungers erholt hatte. Aber die Geschichten über ihn blieben lange im Gedächtnis, hielten den Zorn auf England wach und setzten seine Zeichen bis in unsere Gegenwart.
Auf eines von ihnen stoße ich im Tal von Delphi, County Mayo.
Rauschend kommt der River Erriff von den Höhen der Partry Mountains herab, fällt weiß schäumend über einen Katarakt und strömt von hier in die langgestreckte Bay von Killary Harbour. Ich fahre an der Nordseite der Bucht auf der Straße zum Doo-Lough-Paß. Unterwegs Angler - hier kann wilder Lachs gefangen werden. Rechts und links der Piste Schafe, Delphi eine Ansammlung weniger Touristenhütten, nicht mehr.
Dann der Eingang zum Tal und links der Doo-See, schmal und bewegt. Der ewige Westwind sprüht ganze Wolken von seiner Oberfläche hoch. Drüben, am anderen Ufer, ein gewaltiges Felsmassiv, durchfurcht von Schründen, die der Regen in die Berghaut gegraben hat.
Und da sehe ich den Stein, rechts der Straße, an der steilen Kante der Sheefry Hills - roh behauen, in Kreuzform, auf einen kleinen Sockel gesetzt.
Ich steige aus und lese auf einem Schild: »Doo Lough Tragedy
1849 Erected to the memory of those who died in the famine 1845-1849«. Und so verlief die Tragödie, von der der Stein spricht.
Am 30. März 1849, im fünften Hungerjahr, war 600 Menschen aus dem Umland von Delphi mitgeteilt worden, sie sollten sich am nächsten Morgen an der Anglerhütte des Marquis von Sligo am Doo Lough einfinden, wo sie von Sonderbeauftragten der Regierung Hilfe bekommen würden. Einige waren vom Hunger schon so geschwächt, daß sie in Delphi blieben, die anderen machten sich auf den fünfzehn Kilometer langen Marsch an den See. Nur notdürftig bekleidet, gerieten sie in einen Schneesturm und trafen erst am Mittag an der Anglerhütte des Marquis ein. Aber die Regierungsbeamten waren gerade beim Dinner und wollten nicht gestört werden. Nachdem die Herren, der Adlige, Colonel Hogrove und Captain Primrose, gespeist hatten, schickten sie die ausgemergelten Gestalten zurück, ohne das Hilfsversprechen wahr gemacht zu haben.
Der zeitgenössische Chronist der Tragödie, James Berry aus Louisburgh, berichtete, daß viele der bis auf die Knochen abgemagerten Menschen auf dem Rückweg hinfielen und am Straßenrand starben.
Vor dem Gedenkstein der Doo-Lough-Tragödie liegt einer jener Kränze, wie sie an Irlands Grabstätten üblich sind - Plastikblumen von schreienden Farben in einer Plastikumhüllung, das Ganze in seiner Künstlichkeit nicht zu überbieten und doch nicht ohne Sinn, wie mir inzwischen klargeworden ist.
Ungeschützte Naturblumen, die von dem dauernden Wind verschont geblieben wären, würden einfach von Irlands notorischen Regenkanonaden niedergehauen werden. Ich gebe zu, daß die eingebürgerte Notlösung mir immer zugesetzt hat, obwohl ich die Gründe dafür kannte. Aber hier, vor diesem Stein, ist keine Spur solcher Empfindungen in mir, hier, in dieser Wildnis, ist der bunte Plastikschlauch nichts anderes als der wohltuende Beweis von Erinnerungen an einen Schrecken, der eineinhalb Jahrhunderte zurückliegt, ohne vergessen worden zu sein.
Der Befreier
Im dritten Jahr des Großen Hungers, 1847, stirbt der Mann, dem nahezu jeder irische Weiler, jede Ortschaft, jede Stadt einen Straßennamen gewidmet oder eine Statue errichtet hat, die
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