Mein irisches Tagebuch
Verteidigungsmethode (von der wehrhaften Peripherie ins immer stärker befestigte Innere), dann mache ich mich per pedes auf den einstündigen Weg nach Kilronan.
Links, über die blaue Wasserfläche des North Sound hinweg, Connemaras erhabene Bergsilhouette; rechts, jenseits des South Sound, die düstere Wand der Kliffs von Moher und die mächtige Wölbung des Burren; auf der Straße vor, hinter und neben dem Wanderer Blumen, Karst, alte cottages und, endlos, geschichtete Steine.
Während des Marsches erinnere ich mich dunkel an Bilder aus dem berühmten Filmklassiker »Die Männer von Aran«, den Robert Flaherty, ein Amerikaner irischer Abstammung, 1934 mit Laiendarstellern von der Insel drehte, was dem Schwarzweißstreifen ein Höchstmaß an Authentizität verlieh. Mir geisterte der nie gesehene Film als schemenhaftes Heldenepos durch den jünglingshaften Sinn, Vorbild eines gefährlichen Daseins, das in immer nassen Kleidern von Haifischen, Stürmen und Hunger dauerbedrängt war. Aber wo und wann mir zum erstenmal das Stichwort »Aran Islands« als etwas ganz Außergewöhnliches, Fremdes, Geheimnisvolles ins Hirn gepflanzt worden ist, weiß ich nicht mehr.
Ebensowenig, wann ich zum erstenmal davon gehört habe, daß der Sinn der komplizierten Strickmotive auf den kratzigen Aran-Pullovern aus Schafswolle darin bestand, daß ertrunkene Fischer oft genug nur an den familieneigenen Mustern identifiziert werden konnten. Dagegen ist mir in Erinnerung, daß ich bei der Kunde dachte: Müssen die aber lange in der See gelegen haben.
Und nun, nach so langer Zeit, komme ich auf dem Marsch über die Insel vorbei an den Gedenkstätten für die Ertrunkenen oder nie Zurückgekehrten, sogenannten memorial stones , wuchtige Male mit Inschriften auf gälisch und mit einem steinernen Kreuz obendrauf.
In Kilronan miete ich mir ein Rad und fahre an der Bucht entlang auf den Ostzipfel von Inishmore zu.
Nach geradelten zehn Minuten vor Killeany ein unvergeßliches Bild: Am Strand sitzt ein junges Mädchen auf einem Stein in Jeans und Sweater, die langen rötlichen Haare bis tief den Rücken hinunter, den Kopf auf die Knie gelegt und die Arme dahinter verschränkt. Ich weiß, daß es blöd ist, schäme mich vor mir selbst, komme aber nicht dagegen an zu denken: die Loreley der Aran Islands.
Der Anblick der Küste ist weniger romantisch. Der Sand ist verschmutzt, Unrat liegt herum, überall Ölplacken. Man wendet sich mit Grausen.
Dann ein Friedhof, Gräber ohne Kreuze, nur Platten mit Inschriften, einige auf englisch, die meisten auf gälisch (alle betagteren Inselbewohner, heißt es, beherrschten noch die rauhe Keltensprache). Uralt müssen viele hier geworden sein, wie Bridget O’Donnell, der 1849 geboren wurde und 1948 mit 99 starb. Andere Geburts- und Sterbedaten weisen 85 und 90 Jahre aus. Lange gelebt haben die Menschen hier, so ganz ohne Smog und verseuchtes Wasser.
Noch hat sich daran nichts verändert, tönt es in den Werbeblättern des Massentourismus, noch seien Luft und Erde rein und die Brunnen klar. Aber wird es so bleiben? Fünf Boote bringen in der Saison täglich 2000 Menschen auf die Insel und zurück.
Zu den Umweltsorgen kommen soziale. Wer höhere Bildung will, muß aufs Festland, und das ohne jede Hoffnung, nach Schul- und Universitätsabschluß auf der Insel eine Beschäftigung zu finden. Außerhalb der Sparten Landwirtschaft, Fischfang und Tourismus gibt es kaum Arbeit. Mehr noch als im übrigen Irland sind Erwerbslosigkeit und Auswanderungszwang die Merkmale einer malerischen, aber nichtsdestotrotz bitteren Armut. Sie fördert die Versuchung, dem Druck von wohlhabenden In- und Ausländern nach privatem Grunderwerb nachzugeben und so langsam, aber sicher die alten sozialen und mentalen Strukturen der Inselgesellschaft aufzulösen. Und das gilt für die ganze Gruppe der Aran-Inseln, also auch für die beiden kleineren.
Von den Puffin Holes am Ostende von Inishmore aus blicke ich auf Inishmaan (900 Hektar) und, daran vorbei, Inisheer (300 Hektar), sie schon auf halber Strecke zur Küste von Clare. Wie unbewohnte Satelliten der Hauptinsel liegen sie da, dornröschenhaft vergessen, obwohl jede etwa 300 Einwohner hat. Es gibt dort drüben kein Hotel, auf beiden Inseln nicht, nur private Unterkünfte. Erfreulicherweise ist auch auf Inishmore die Hotellerie eher unterentwickelt - was bewahrt vor Übernachtungen, mit denen sich der Tourismus noch stärker festbeißen könnte.
Wie ich überhaupt mit Genugtuung
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