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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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weiß schon, wer sein Bild hat.

    Freya Paintner stellte das Telefon in die Ladeschale und steuerte ihren Rollstuhl durch den Salon an die Tür zum Garten. Die beiden Flügel standen offen, die halbkreisförmige Sandsteinterrasse mit ihrer niedrigen Brüstung fiel über sieben Stufen zu einem Vorplatz und einer angrenzenden großen Rasenfläche ab, hinter der alte Eichen eine zwischen den Stämmen wachsende Hainbuchenhecke überragten. Sie war nicht mehr geschnitten worden und zu Büschen ausgewachsen. Der Rasen, seit Jahren nicht gemäht, hatte sich in eine von alten Graslagen, Laub und Unkräutern verfilzte Wiese verwandelt, aus der die jungen Halme ihren Weg ans Licht suchten. Ein Swimmingpool, den Freyas Vater, Ludwig Paintner, in den Fünfzigerjahren hatte anlegen lassen und den sie sehen konnte, wenn sie ihren Rollstuhl in den linken Erker mit seinen bodenlangen Fenstern lenkte, war von einer Schicht Algen und Entengrütze bedeckt. Von seinem Grund, wo seit Jahren abgesunkene Blätter und Wasserlinsen faulten, stiegen ab und zu Blasen auf.
    Sie liebte den Anblick des langsam verwildernden Gartens. Seit sie den Rollstuhl brauchte, hatte sie alle bis dahin üblichen Arbeiten in dem parkartigen Gelände, das die Villa umgab, untersagt. Sie wollte zusehen, wie die Natur sich dem Haus näherte, und empfand eine tiefe Befriedigung darüber, wie stark und ungestüm das Leben um sie herum wuchs, während sie selbst auf den Tod zuging.
    Sie war vierundachtzig Jahre alt, gebildet, unnachgiebig im Urteil und von einer schönen, ruhigen Würde. Je mehr der Garten und die Auffahrt zur Eingangsterrasse verwahrlosten, um so sorgfältiger achtete sie auf sich selbst. Friseurin, Kosmetikerin, Fußpflegerin, Maniküre kamen ins Haus, sie ließ sich von ihrer ungarischen Pflegerin Dorina Radványi baden und massieren, täglich frisch ankleiden, liebte rosafarbene und hellblaue Blusen, steckte sich mit Schildpattkämmen die weißen Haare hoch, hatte zweimal in der Woche Besuch von einem Physiotherapeuten und betrieb um den eigenen Körper einen Aufwand, der einem einzigen Zweck diente: die Trauer im Zaum zu halten, mit der sie seit mehr als sechzig Jahren lebte und in der sie zu versinken fürchtete. Von außen hielt sie sich innen aufrecht.
    Auf ihrem Schoß lag die Zeitung mit dem ganzseitigen Bericht über den Ötzi von der Nelda , wie der Reporter das aufgefundene Gerippe getauft hatte. Freya Paintner hatte gelesen, dass der Schädel eingeschlagen, die Oberarme und die Schienbeine gewaltsam gebrochen worden waren. Dass man nichts über den Toten wusste. Dass das Landeskriminalamt den Fall übernommen hatte. Dass im Haus Nummer 5 seit 1938 ein Fischer gewohnt habe, allein, ein Mann namens Alois Dietz. Man fand ihn am 13. April 1945, einem außergewöhnlich warmen Freitag – sowjetische Truppen hatten wenige Tage zuvor Budapest erobert, die Franzosen Karlsruhe besetzt –, in der Nelda. Neunhundert Meter flussabwärts von Zungen war er im Schilf angeschwemmt worden. Sein Boot kam erst fünfzehn Kilometer weiter an der Heergarter Schleuse zum Halt.
    Man hatte den Fall nicht lange untersucht. Der Mann war vermutlich beim Fischen ins eiskalte Wasser gefallen und schnell gestorben. Es gab so viele Tote in jenen Tagen, und manche bekamen nicht einmal einen Totenschein. Alois Dietz hatte keine Verwandten. Seit seinem ungeklärten Tod hatte das Haus leer gestanden. Jetzt geriet er posthum in Verdacht, ein Mörder gewesen zu sein und sich nach der Tat umgebracht zu haben.
    Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein ausführlicher Bericht über die Familiengeschichte und den Holzvertrieb der Paintners. Anlass war die polizeiliche Mitteilung, dass das Herz, das vor Tagen von Verena Züllich in der Aegidiuskirche gefunden worden war, eindeutig der verschwundenen Iris Paintner zuzuordnen sei. Noch sei ihre Leiche nicht gefunden worden.

    Der Elektromotor summte lauter, als der Rollstuhl mit den kleinen Vorderrädern gegen die Schwelle der Gartentür fuhr. Wenn Freya Paintner jetzt drehen, rückwärts wieder an die Schwelle fahren und den Hebel weiter zu sich ziehen würde, könnten die größeren Hinterräder den Widerstand leicht überwinden und sie hinaustragen, über die bemoosten Sandsteinplatten der Terrasse, und weiter bis zu den Stufen. Schon oft hatte sie daran gedacht, sich mit dem Rollstuhl rückwärts über die Treppen zum Vorplatz hinabzustürzen. Heute wusste sie, warum sie es nie getan hatte: Ihr Geliebter war wieder bei

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