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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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ihr, und sie konnte für seine letzte Ruhe sorgen. Er war damals nicht geflohen, wie ihr gesagt worden war. Er war ihr treu geblieben. Man hatte ihn totgeschlagen. Und niemand konnte ihr einreden, dass ausgerechnet der Mann, der Yoro Mboge versteckt hatte, Alois Dietz, ihn umgebracht haben sollte.
    Ihre Gefühle, die sie seit jenem Jahr 1945 stets in ihrer Gewalt gehabt hatte, überliefen sie jetzt in Wellen: Sie war überwältigt davon, dass ihre Liebe sich in all dem Schrecken auf tröstliche Weise vollendete. Zugleich war Iris’ junges Leben ausgelöscht worden. Der absurde Gedanke kam in ihr auf, das Schicksal habe ihr den Geliebten um den Preis von Iris zurückgegeben.
    Seit sie verschwunden war, hatte die Angst um sie die Familie gelähmt – auch Freya, obwohl sie ihre Großnichte, die ihr angeblich ähnlich sah, nicht sonderlich schätzte. Iris war ihr zu sehr eine typische Paintner, ein gelungenes Erziehungsprodukt ihres Vaters Martin, berechnend und egozentrisch. Er herrschte in der Firma, hatte seine Tochter auf die spätere Übernahme konditioniert und seine Frau Susanna, die er, für Freya unerträglich, Susi nannte, in eine andauernde Depression getrieben.
    Selbst wenn Martin Paintner anders gewesen wäre, als er war: Bei Freya konnte er nicht gewinnen, schon weil er der Sohn ihres älteren Bruders Gernot war: Auch der war ein perfekter Vatersohn, anders als ihr jüngerer Bruder Helmut, der in Martins Stadthaus unter dem Dach wohnte, seit vier Jahrzehnten in tiefer Melancholie dämmernd, mit seiner Münzsammlung beschäftigt und von der Familie seines Neffen notdürftig versorgt.
    Es passte zu Martin, dass er sie die Nachricht von Iris’ Tod aus der Zeitung erfahren ließ. Irgendwann würde sie ihn aus der Zeitung erfahren lassen, wer der Tote im Fischerhaus an der Nelda war.

    Sie ließ die schwarze Griffkugel des Steuersticks los, blickte in den verwilderten Garten hinaus und weinte lautlos. Sie saß aufrecht, ruhig, die Tränen rannen gleichmäßig aus den offenen Augen, liefen über die Mundwinkel zum Kinn und tropften auf die Zeitung in ihrem Schoß.
    Als würden sie emporgeschwemmt, stiegen alte Bilder in ihr auf, vermischten sich und trieben wie von selbst zusammen, vereinigten sich zu ihrer Geschichte, der Geschichte von Freya und dem toten Soldaten, der jetzt unter dem Fußboden des Fischerhauses Nummer 5 von einem sechsjährigen Jungen gefunden worden war.
    Wie lange würden sie brauchen, um herauszufinden, dass er ein französischer Kriegsgefangener gewesen war? Noch dazu einer, der ein Gesicht schwarz wie die Nacht gehabt hatte. Ein Tirailleur Sénégalais . Was wussten sie über die Kolonialsoldaten im französischen Heer, die Westafrikaner und Nordafrikaner? Vermutlich nichts. Würden sie immer noch, wie damals, sagen, dass er ein Vieh war, von der Rasse, die Frankreich »vernegert« und geschwächt hatte, bis es unterliegen musste? Dass es eine Schande war, ihn zu lieben? Sechzig Jahre hatte sie seinen Namen in Gebete eingeschlossen und manchmal, wenn sie allein war, geflüstert, als könne sie ihn zu sich locken. Sie glaubte nicht an Engel und Geister, aber seine Nähe konnte sie spüren.
    Laut rief sie seinen Namen in den Garten: Yoro!

    Wie heißt das Schwein? Yoro Mboge? Weißt du, was du uns angetan hast? Einen flüchtigen Kriegsgefangenen verstecken! Sexuelle Verwahrlosung! Hast du überhaupt eine Ahnung, was das heißt, du Niggerhure? Da steht doppelt KZ drauf!
    Das Gesicht ihres Vaters war nicht von Angst um sie oder die Familie verzerrt gewesen, es war die Wut, die sie alle von ihm kannten, ihre Mutter, ihre beiden Brüder, diese Wut, die zunahm, seit mit dem Nazireich auch seine Hoffnungszeit zu Ende ging.
    Nach dem Aufschrei hatte er sie mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen, mit dem Familienring der Paintners getroffen. Sie hatte sich an die Wange gefasst, das Blut an ihren Fingern betrachtet, ihren Vater stumm angesehen und sich geschworen, mit diesem Mann, der sich als Leiter eines kriegswichtigen Betriebes UK hatte stellen lassen und noch im März 1945 seine Kunden mit Heil Hitler grüßte, nicht mehr zu sprechen. Sie hatte den Schwur gehalten, vierunddreißig Jahre lang, bis man Ludwig Paintner 1979 auf dem alten Zungener Friedhof in dem Familiengrab beisetzte, über dem ein wuchtiger Engel aus poliertem Basalt saß. Als ihr Vater im Sterben lag, war sie auf Drängen der Mutter zu ihm gegangen, hatte neben dem Bett gestanden und geschwiegen. Er hatte sie ermahnt,

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