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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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selbstverständlich geworden, während seine dritte gesetzliche Mutter den Gedanken verdrängte, dass er ihr vermutlich eine junge Freundin verschwieg.
    Dann und wann schenkte er ihr ein Gedicht, und sie versuchte, daraus Zeichen seiner Zuneigung zu lesen.
    Er würde in etwa drei Stunden zurück sein, die Einkäufe verstauen, ihr eine Stunde vorlesen, dann das Abendessen zubereiten und sich am späteren Abend – nie vergaß er den Nachtkuss – nach oben in seine Räume zurückziehen. Danach würde sie ihrer Pflegerin Bescheid sagen.
    In dem blauen Karton bewahrte Freya Paintner Erinnerungsstücke auf, die sie sicher verwahrt wissen wollte: Ein kleines Schwarzweißfoto, das sie als Mädchen im knöchellangen Mantel mit der Sammelbüchse des Winterhilfswerks zeigte. Die runde Büchse hatte sie gut in Erinnerung: aus rot lackiertem Blech, mit Henkel, im Münzschlitz eine nach innen federnde Sperrzunge, damit man eingeworfene Münzen nicht wieder herausschütteln konnte; ein rundes Loch für gerollte Scheine; ein Fallriegel mit Ösen für die Verplombung durch den Obmann. Das Mädchen auf dem Foto sah froh aus und war stolz auf seine Sammlung; es glaubte, was es gelesen hatte: Jedem ist klar, dass der Kampf um höchstes Glück auch höchste Opferbereitschaft verlangt. Sie muss immer aufs Neue bewiesen werden.
    Auch wenn die Pfundspende des Winterhilfswerks, die aus Lebensmitteln in Sammeltüten bestand, schon ein Jahr zuvor abgeschafft worden war, hatte die einzige Tochter von Ludwig Paintner darauf bestanden, im Winter 1944 den Fischer Alois Dietz mit Essen zu versorgen. Er wohnte allein an der Floßlände Nummer 5 zwischen den verlassenen Häusern und wurde von ihr seit drei Jahren mit den reichlichen Vorräten ihrer Familie durchgefüttert.
    Auf dem Foto war sie siebzehn, ein Neujahrskind.
    Als sie am 1. Januar 1945 achtzehn Jahre alt geworden war, blies sie ihre Geburtstagskerze auf dem Frühstückstisch aus, dankte ihrer Mutter für den Napfkuchen und die Wollhandschuhe und bat darum, ein Achtel des Kuchens Alois Dietz bringen zu dürfen.
    Dietz war dreiundsiebzig Jahre alt, ein gedrungener Mann mit viereckigem Kopf. Seine Schläfen waren hoch geschoren, sein hellgraues Haar stand als Bürste über der Stirn, und als Freya ihn zum ersten Mal begrüßt hatte, meinte sie, er habe Hände aus Holz. In seinem Gesicht waren die Geduld des Fischers und die Armut zu lesen. Seit dem Tod seiner Frau hinkte er und zog das linke Bein nach. Er konnte nicht sagen, warum. Wenn ihn Freya mit Heil Hitler begrüßte, antwortete er Heil Sauhund und sah sie abschätzig an, als wollte er ihr sagen: Verrat mich, wenn du dich traust.
    Unter ihrem Jugendfoto lagen im blauen Karton Abzeichen des Winterhilfswerks: ein Anstecker aus weißem Kunstharz, das nach Elfenbein aussehen sollte und in einem Ring die kleinen Figuren von Hänsel und Gretel mit der Hexe zeigte; damals hatte sie aus der Märchenserie auch den Gestiefelten Kater besessen. Zwei Blütenbroschen lagen neben einer Nadel mit einem Bildknopf, auf dem ein rotbackiger Junge in seinem Gitterbettchen kniete. Darüber stand die Bogenschrift: Jedem Kind ein Bett .
    Sie nahm das Abzeichen heraus und legte es sich in die Hand. Ihr Sohn Joseph musste jetzt fünfundsechzig Jahre alt sein. Wo war er? Hatte er Kinder? Sie wären seit Iris’ Tod die einzigen leiblichen Erben in der Familie. Aber sie wusste ja nicht einmal, ob er lebte.

    Am Vormittag des 1. Januar 1945 war sie zu Alois Dietz gelaufen, um ihm das Stück von ihrem Geburtstagskuchen, ein halbes Pfund Zucker und eine Halbpfunddose konservierte Butter zu bringen. Dietz erwartete sie nicht und erschrak, als sie aus dem kurzen Eingangsflur in seine Wohnküche trat.
    Ich hab heut Geburtstag, und du kriegst ein Stück von meinem Geburtstagskuchen!
    Er blieb am Küchentisch hocken, die Hände auf der geblümten Wachstuchdecke.
    Glückwunsch.
    Ich bin jetzt achtzehn.
    Das wird man von selbst.
    In ihre Freude mischte sich Ärger. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Dietz den Ofen ungewöhnlich stark eingeheizt hatte, die Eisenringe der Herdplatte strahlten eine Gluthitze ab, die der Fischer sonst zumindest für den großen Wassertopf genutzt hätte.
    Also, du bist jetzt achtzehn, sagte er langsam und stand auf. Du musst mir jetzt bei was helfen.
    Er ging voraus in den hinteren Flur, an dem ein kleines Schlafzimmer einem Waschraum mit einer aufgebockten Zinkwanne gegenüberlag und an dessen Ende die Hintertür zum Hof mit dem Klohäuschen

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