Mein ist die Stunde der Nacht
habe heute nichts als eine halbe Tasse Kaffee zu mir genommen. Ich gehe jetzt in den Kaffeeraum. Es wäre schön, wenn du auch kämst, aber du brauchst diesmal nicht am Empfang zu fragen, ob ein neues Fax für mich gekommen ist. Es ist keines gekommen – ich hab schon gefragt.«
70
JAKE PERKINS MACHTE DAS Vorhaben, das er Direktor Downes erläutert hatte, sofort wahr und ging in das Klassenzimmer, welches inzwischen als Büro der Schülerzeitung fungierte. Dort wühlte er sich durch die Aktenordner mit Fotos aus der Gazette , die während der vier Jahre aufgenommen worden waren, als Laura Wilcox Schülerin in Stonecroft gewesen war. Als Vorbereitung auf das Klassentreffen hatte er bereits die Jahrbücher durchgesehen und Fotos von ihr gefunden. Jetzt war er auf der Suche nach weiteren, vielleicht etwas weniger steifen Aufnahmen als die aus den offiziellen Jahrbüchern.
Im Laufe einer Stunde fand er einige Fotos, die perfekt passten. Laura hatte in einer Reihe von Schulaufführungen mitgewirkt. Eine davon war ein Musical gewesen, und er hatte ein tolles Foto von ihr gefunden, auf dem sie als Revuegirl zu sehen war. Mit dem weit hochgestreckten Bein und ihrem strahlenden Lächeln stach sie aus der Reihe der anderen Mädchen hervor. Keine Frage, sie sah wirklich sensationell aus, dachte Jake. Auch wenn sie heute hier Schülerin wäre, würden alle Jungs, die ich kenne, hinter ihr her sein.
Er kicherte in sich hinein, als er versuchte, sich vorzustellen, wie die Jungs es wohl damals angestellt hatten, wenn sie bei einem Mädchen punkten wollten. Wahrscheinlich, indem sie ihr anboten, ihre Bücher zu tragen. Heute müssten sie ihr
schon anbieten, sie in ihrer Corvette nach Hause zu fahren, dachte er.
Doch als Jake auf das Foto der Abschlussfeier von Lauras Klasse stieß, machte er große Augen. Er nahm eine Lupe zur Hand, um die Gesichter der Absolventen zu betrachten. Laura sah natürlich wunderschön aus, mit ihren langen Haaren, die ihr auf die Schultern fielen. Sie schaffte es sogar, mit dieser idiotischen akademischen Kopfbedeckung, die jeder Absolvent trug, attraktiv auszusehen. Der Anblick von Jean Sheridan jedoch traf ihn wie ein Schock. Ihre Hände waren aneinandergepresst. In ihren Augen glitzerten Tränen. Sie sieht traurig aus, dachte Jake, unglaublich traurig. Man würde nie auf den Gedanken kommen, dass sie gerade die Ehrenmedaille für Geschichte und ein Stipendium für Bryn Mawr erhalten hat. Sie macht ein Gesicht, als hätte man ihr gerade mitgeteilt, dass sie nur noch zwei Tage zu leben habe. Wer weiß, vielleicht war sie traurig, dass sie von hier wegmusste. Könnte mir nicht so schnell passieren.
Er bewegte die Lupe von einem Gesicht zum nächsten und pickte sich einen Ehrengast nach dem andern heraus. Sie haben sich ganz schön verändert, dachte er. Einige sahen damals wie richtige Volltrottel aus. Gordon Amory zum Beispiel war fast nicht wiederzuerkennen. Du meine Güte, sah der grässlich aus, dachte er. Jack Emerson war schon damals der Fettkloß vom Dienst. Carter Stewart hätte dringend mal zum Friseur gemusst, nein, man hätte ihn besser zu einer Generalüberholung geschickt. Robby Brent hatte damals schon keinen Hals und fing überdies an, kahl zu werden. Mark Fleischman sieht aus wie eine Bohnenstange mit einem Kopf obendran. Neben ihm stand Joel Nieman. O Gott, dachte Jake, der und Romeo! Wenn ich Julia wäre, hätte ich mich aufgehängt bei dem Gedanken, mit dem verkuppelt zu werden.
Plötzlich fiel ihm etwas auf. Die meisten Absolventen trugen ein nichts sagendes Lächeln zur Schau, jene Art von Lächeln, die man sich für ein Gruppenfoto aufhebt. Das breiteste
Lächeln zeigte sich jedoch auf dem Gesicht jenes Jungen, der nicht direkt in die Kamera, sondern auf Jean Sheridan blickte. Was für ein Kontrast, dachte Jake. Sie schaut drein, als hätte sie gerade ihren Freund verloren, und er grinst von einem Ohr zum andern.
Jake blickte kopfschüttelnd auf den Stapel Fotos auf dem Tisch. Ich denke, ich habe jetzt genug beisammen, dachte er. Als Nächstes werde ich mit Jill Ferris sprechen, der Lehrerin, die für die Gazette verantwortlich ist. Mit der kann man reden. Ich werde sie überzeugen, dass wir das Foto von Laura als Tänzerin auf der Titelseite bringen und das von der Abschlussfeier auf der Rückseite. Dazwischen wird sich das Thema meines Artikels ausspannen – das Mädchen, das sämtliche Trümpfe in der Hand hielt und jetzt ins Schleudern geraten ist, und die
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