Mein ist die Stunde der Nacht
ich im Radio gehört, dass dieser junge Reporter, der uns auf dem Klassentreffen genervt hat, gegenüber den Medien von der Existenz eines so genannten ›Mittagstisch-Serienkillers‹ gesprochen hat. Auch wenn du nicht an diese Theorie glaubst – ich mache mir Sorgen um dich. Seitdem Laura verschwunden ist, bist du die Einzige von den Frauen, die übrig ist.«
»Ich wünschte, ich müsste mir nur Sorgen um mich selbst machen«, sagte Jean.
»Worüber machst du dir denn noch Sorgen? Komm, Jean, sag es mir. Ich bin darin geübt, den Menschen Stress anzusehen, und wenn jemand unter Stress stand neulich Abend, dann warst du es – in der Bar, als du mit Sam Deegan gesprochen hast, von dem ich jetzt weiß, dass er Kriminalbeamter ist.«
Die Bedienung schenkte Wasser in ihre Gläser. Das gab Jean ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Ich erinnere mich daran, dass Mark mir damals ein Taschentuch geben wollte,
dachte sie. Ich hatte so eine Wut auf mich selbst, weil ich weinen musste, und ich war genauso wütend auf ihn, weil er es bemerkt hatte. Dabei wollte er mir nur helfen. Und jetzt will er mir auch helfen. Soll ich ihm von Lily erzählen?
Sie sah, dass er sie beobachtete und darauf wartete, dass sie etwas sagte. Er möchte, dass ich mit ihm rede. Soll ich? Sie erwiderte seinen Blick. Er ist einer dieser Männer, die mit Brille genauso gut aussehen wie ohne, dachte sie. Er hat wunderbare braune Augen. Diese kleinen gelben Flecken darin sind wie Sonnenlicht.
Sie zuckte die Achseln und hob die Augenbrauen. »Du erinnerst mich an einen Professor auf dem College. Wenn der eine Frage gestellt hatte, starrte er einen immer einfach so lange an, bis er eine Antwort erhielt.«
»Genau das tue ich, Jean. Einer meiner Patienten nennt es meinen Weise-Eule-Blick.«
Die Bedienung kam an ihren Tisch und servierte die Sandwiches. »Komme sofort mit dem Tee«, sagte sie fröhlich.
Jean wartete, bis der Tee eingeschenkt war, und sagte dann ruhig: »Dein Weise-Eule-Blick hat mich überzeugt, Mark. Ich denke, ich werde dir von Lily erzählen.«
47
ALS SAM DEEGAN WIEDER IN seinem Büro war, rief er als Erstes den Bezirksstaatsanwalt in Los Angeles an und ließ sich von ihm mit Carmen Russo verbinden, der Ermittlerin, welche die Untersuchungen zum Tod von Alison Kendall geleitet hatte.
»Tod durch Ertrinken infolge eines Unfalls haben wir ermittelt, und dabei bleibt es auch«, erklärte ihm Russo. »Ihre Freunde haben übereinstimmend ausgesagt, dass sie jeden Morgen früh schwimmen ging. Die Tür zum Haus war offen, aber nichts wurde gestohlen. Teurer Schmuck auf ihrem Frisiertisch. Fünfhundert Dollar in bar und Kreditkarten in ihrer Brieftasche. Sie war extrem ordentlich. Alles an seinem Platz, im Haus, im Garten und im Badehaus. Abgesehen davon, dass sie tot war, war sie bei bester Gesundheit. Sie hatte ein starkes Herz. Keine Anzeichen von Alkohol oder Drogen.«
»Überhaupt keine Spuren von Gewalt?«, fragte Sam.
»Ein leichtes Hämatom auf ihrer Schulter, das ist alles. Ohne zusätzliche Hinweise reicht das kaum für einen Mordverdacht. Wir haben natürlich Fotos gemacht, aber dann die Leiche freigegeben.«
»Ja, ich weiß. Ihre Asche wurde hier im Familiengrab beigesetzt«, sagte Sam. »Danke, Carmen.« Es widerstrebte ihm, das Gespräch so schnell zu beenden. »Was geschieht mit ihrem Haus?«
»Ihre Eltern leben in Palm Springs. Sie sind schon etwas älter. Soviel ich gehört habe, wollen sie erst mal, dass Kendalls Haushälterin sich weiter um das Haus kümmert, bis sie es über sich bringen, es zum Verkauf anzubieten. Scheinen es nicht besonders nötig zu haben. In der Lage muss das Haus, so, wie es da steht, locker mehrere Millionen Dollar wert sein.«
Entmutigt legte Sam auf. Sein Instinkt sagte ihm, dass Alison Kendall nicht eines natürlichen Todes gestorben war. Jake Perkins war tatsächlich auf etwas gestoßen, als er herausfand, dass die fünf verstorbenen Frauen aus derselben Klasse in Stonecroft immer an einem Tisch gesessen hatten. Sam war sich da absolut sicher. Aber wenn schon Kendalls Tod keinerlei Verdacht erregt hatte, wie viel Glück würde er dann bei den vier anderen haben, die über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren gestorben waren?
Das Telefon klingelte – es war Rich Stevens, der Bezirksstaatsanwalt. »Sam, dank diesem Großmaul von Perkins mussten wir eine Pressekonferenz einberufen, um eine Erklärung abzugeben. Kommen Sie bitte zu mir, damit wir besprechen, was wir sagen
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