Mein Jahr als Mörder
Nur eins bedauert der Wilhelmstraßencäsar, außerdienstlich, auf dem Heimweg an einer Hotel-Ruine vorbeifahrend, deren hohle Fensterbögen ihn an das Kolosseum erinnern: Geheime Reichssache, niemand wird je den schönen Daumen sehen und wie er sich nach unten dreht. Cäsar allein in der Kaiserloge, nur vom Wohlwollen seines Ministers und den bewundernden Blicken der Sekretärinnen und Sachbearbeiter getragen. Sein kleines Kolosseum ist leer, keine Zuschauer, keine Reporter, kein Beifall, kein Jubel begleiten die Gesten Cäsars und erhöhen sie bei der triumphalen Vereinigung seines Rechtsbewusstseins mit seinem Selbstbewusstsein. Nein, ein Beamter muss sich bescheiden, alles bleibt geheim in drei mittelgroßen Dienstzimmern. Zuschauer, Reporter, Beifall, Jubel stehen nur dem Führer zu, der Führer hasst Schädlinge, der Führer braucht Leichen und zum Geburtstag statt Schlagsahne auf der Torte ein paar hundert Leichen mehr. Nein, der Beamtencäsar drängt sich nicht vor, maßt sich nichts an, hält sich an Gesetze und Ausführungsbestimmungen, trommelt mit dem Daumen auf die Tischplatte und diktiert: Von einer Bekanntmachung in der Presse bitte ich abzusehen.
Der Scharfrichter Röttger ist anderweitig beschäftigt, die Verurteilten dürfen hoffen. Sie haben das Schlimmste hinter sich. In Berlin regierte die Gestapo: Schreibverbot, Redeverbot, Hände tags gefesselt, nachts helles Zellenlicht. Bei den Ver-hören Schläge in den Bauch, Quälen, Fesseln, eine ent-sicherte Pistole auf dem Tisch. Das Ziel ist erreicht, das Urteil gefällt. Im Zuchthaus Brandenburg werden die vier nicht mehr geschlagen, sie stecken in Anstaltskleidung, dürfen keine Pakete empfangen, aber Material für die berufliche Tätigkeit, kriegswichtige Forschungen. Alle 14 Tage ist ein zweiseitiger, gut leserlicher Brief im DIN-A5-Format mit 45 Zeilen erlaubt: Mit unserem Zustand haben wir uns alle gut abgefunden, waren jetzt auch zusammen, was wir sehr wohltuend empfanden. Anneliese hat nicht nur mich, sondern uns alle so ungemein getröstet. Was auch immer kommen mag, wir empfinden es nicht mehr als schlimm, schreibt Groscurth kurz nach dem Urteil.
Havemann hofft auf die renommierten Kollegen am Pharmakologischen Institut, die ihm einen Forschungsauftrag für das Oberkommando der Wehrmacht verschaffen sollen. Richter aktiviert seine Beziehung zum Stabsamt Göring und will an einem System zur Fertigbauweise von Wohnhäusern arbeiten. Rentsch verfolgt die Idee, eine Immediatboje für die Kriegsmarine zu erfinden. Groscurth plant dank Fachliteratur, Bunsenbrenner, Pipetten usw., die ihm seine Frau besorgen darf, mehrere Aufsätze und eine Reihe von Selbstversuchen für die medizinische Untersuchung: Die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit unter der Gasmaske.
Die Komplizen des Scharfrichters im Reichsministerium der Justiz sind nicht glücklich über die vielen Anträge zu kriegswichtiger Forschungsarbeit. Die Hochverräter haben den Führer geschmäht, das Reich aufs schändlichste hintergangen, das deutsche Volk seinen Feinden ausliefern wollen, den Endsieg bezweifelt - und jetzt kriegswichtige Beiträge, wer soll das glauben, wer soll das beurteilen? Tricks, Schiebung, Wissenschaft im Zuchthauslabor, wo kommen wir da hin! Auf die Befürworter, Professoren, Gutachter ist sowieso kein Verlass. Wohin, wenn die Wissenschaftler anmaßend sich über die Urteile des Volksgerichtshofs erheben! Aber der Daumen ist geduldig, die Verräter werden noch für Prozesse gebraucht, das Umfeld, das ganze Rattennest ist noch nicht ausgeräuchert. Wenn alle Nebenfiguren abgeurteilt und dem Scharfrichter zugeteilt sind, werden wir den Daumen senken, bis dahin dürfen sie zittern und Wissenschaft spielen.
Bevor die Briefe der Gefangenen zur Post gehen, werden sie von den Herren im Amt gelesen. Was schreibt der Oberarzt? Verschwendet er wieder den Platz für Ratschläge an seine Doktoranden? Vor uns liegt jetzt alles dunkel. Es ist unendlich schmerzlich für mich, der Gedanke an Euch, und es ist doch der einzige Tag und Nacht. Ich möchte oft ein tröstendes Wort von Dir hören, Euch umarmen und sehen. Ich weiß, Du wirst alles verstehen, weil Du mein Wollen und Wünschen kennst. Unsere unruhigen Herzen sind es, die unser Schicksal beschworen. Von meinem Fenster sehe ich abends den großen Wagen, ich will ihn immer um 6h betrachten und denke dann an Euch.
Der Scharfrichter Röttger nimmt das Beil und zerhackt seinen Weihnachtsbaum, der Januar ist
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