Mein Jahr als Mörder
bei der Darlehnskasse schon eine weiße Fahne aufgestellt. Und nun rollen also seit etwa % 5 Uhr ununterbrochen Panzer, Panzerautos und kleine wendige Autos durch unser Dorf in Richtung Rhina-Neukirchen. Da der Große jetzt ruhig ist und sich still die Bilderbibel ansieht, gehe ich auch mal nach draußen auf den Hof, wo Groscurths schon stehen. Frau Dr. Gr. weint und Frau Plumpe sagt zu mir: Ihr Gerede konnte ich nicht weiter anhören. Ich stellte mich abseits von ihnen. Da kamen auch mir die Tränen, aber wahrhaftig aus anderen Gründen. Armes, armes Deutschland. All die Opfer, die die Menschen im Krieg bringen mußten! Und was wird nun erst für Not anbrechen: Arbeitslosigkeit, Hungersnot und Krankheiten! Es ist kaum auszudenken. Der einzige Trost, der uns bleibt, ist, daß wir uns in Gottes Hand geborgen wissen und daß Er weiß, was wir bedürfen, ehe wir ihn bitten. - 3 bis 4 Stunden braust so ein Panzer in mächtigem Tempo nach dem anderen bei Lotzens um die Ecke. Abends ist dann Ruhe. Nur noch vereinzelt fährt ein Auto durch.»
Zuerst das Staunen über die Chronistin, von der ich nichts gewusst hatte. Dann über die Einfalt der Chronistin. Und die Ahnung, viel tiefer als vermutet mit der Groscurth-Geschichte verwurzelt zu sein.
Abends zeigte ich Catherine die Seiten, triumphierend, weil sie meine Groscurth-Leidenschaft rechtfertigten.
- Immerhin, sie ist so offen, dir das Tagebuch zu geben, obwohl sie weiß, dass du ganz anders denkst, sagte Catherine.
- Trotzdem, keine Silbe Mitleid, sonst hat sie mit allen Mitleid.
- Wie alt war sie?
- Dreiundzwanzig.
- Na also. Und wer hat sie erzogen? Nazis und Christen, wie wir wissen. Also sei nicht so streng mit ihr!
- Nicht eine Silbe Bedauern über Georg Groscurth.
- Woher sollte sie wissen, was du heute weißt?
Es war die Zeit, in der Catherine immer mehr Vergnügen darin fand, mir zu widersprechen. Natürlich hatte sie Recht. Und ich war der Tölpel, der das nicht zugeben konnte.
«Ihr Gerede konnte ich nicht weiter anhören. Ich stellte mich abseits von ihnen.» Die beiden Sätze feuerten mich an. Wenn mir alles zu viel war, wenn ich flüchtig ans Aufgeben dachte, dann bestärkte mich die sanfteste aller Frauen, die ängstliche Mutter. Sie hatte sich abseits gestellt, ich musste ihren Verrat wieder gutmachen, die Schande abtragen, ich durfte mich nicht abseits stellen. Jetzt erst recht nicht.
Die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei Arbeit unter der Gasmaske
Auch Mörder halten den Dienstweg ein. Freisler und R. geben das Urteil des Volksgerichtshofs an den Reichsanwalt, ebenfalls von Hitler ins Amt gesetzt, der es weiterreicht an die Komplizen in der Wilhelmstraße beim Reichsminister der Justiz. Die ministerialen Spießgesellen freuen sich, gebildete Menschen, die gerne den Cäsar spielen, Daumen nach unten oder nach oben. Nach unten heißt: den Scharfrichter Röttger beauftragen. Nach oben: den Scharfrichter Röttger vorerst anderweitig beschäftigen, die Hinrichtung noch ein bisschen schieben, die Hochverräter am deutschen Volk schmoren und hoffen lassen, ein paar Tage, Wochen, höchstens Monate, falls sie dem deutschen Volk noch nützlich oder für andere Prozesse auszuquetschen sind. Gegen Todesurteile gibt es keine Revision. Mit Gnadengesuchen kann im besten Fall die Vollstreckung vorläufig ausgesetzt werden, wie lange, wie vorläufig, das entscheidet die Wilhelmstraßenbande.
Die Verurteilten stellen solche Gesuche, für Dr. Groscurth plädiert der Anwalt Hendler: Der allgemein anerkannte hervorragende Arzt und Wissenschaftler habe geistig den Boden unter den Füßen verloren und sich, verwirrt, in staatsfeindliche Unternehmungen verwickelt. An der Schwere seiner Tat sei nicht zu deuteln. Er selbst wolle sich von den gefährlichen Gedankengängen frei machen. Er müsse der Wissenschaft erhalten bleiben.
Das geht an Freisler und R., die reichen es mit Ablehnung weiter. Federführend in der Wilhelmstraße sind der Ankläger beim VGH, Jaager, und der Ministerialcäsar Wellmann vom Referat IV. Wellmann schaut das Gnadengesuch und die Akte an, schaut seinen rechten Daumen an. Tadellos geschnittene Nägel, tadellos formuliertes Urteil. Ganz klar, da bleibt kein Daumen oben, solche Hochverräter hat das Fallbeil lange nicht gesehen. Harte Zeiten, harte Pflichten, harte Herzen heißt die Parole für das Jahr 1944, jeder Poststempel erinnert daran.
Weitere Kostenlose Bücher