Mein Jakobsweg
ist, sieht man sie erst aus nächster Nähe, weil sie direkt hinter einer Wegbiegung steht. Es ist zwar noch recht dunkel, aber ich will den monumentalen peregrino trotzdem fotografieren. Also lege ich meinen Rucksack ab und ziehe auch gleich meine Jacke aus, die mir schon viel zu warm ist. Das Ausrichten der Kamera dauert noch eine Weile, und gerade als ich damit fertig bin, fällt der erste Sonnenschein über die Berge hinweg direkt auf meinen Pilger. Ich bin ganz begeistert und knipse gleich mehrmals. Nun kommen auch noch andere Pilger, und wir fotografieren uns gegenseitig.
Die Landstraße habe ich inzwischen längst verlassen. Jetzt gehe ich auf Waldwegen, wenn man diese so nennen kann. Meistens sind es vom Regen- und Schmelzwasser ausgespülte Rinnen, mit vielen losen Steinen und wenig Erdreich. Man muss schon sehr aufpassen, wo man hintritt. Weich und federnd wie in unseren Wäldern sind die Wege selten.
Inzwischen geht es auch wieder bergauf, steil bergauf, bis zum nächsten Pass. Noch dazu ist die Sonne für diesen frühen Morgen eigentlich schon viel zu warm. Andererseits möchte ich mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn es hier oben in den Bergen richtig regnet oder gar neblig ist. Ganz plötzlich mündet der schmale Waldpfad in einen steilen, sandigen Hang, etwa wie eine hohe Düne. Beklommen schaue ich hinauf. Es ist wirklich nicht hoch, dennoch zweifle ich, ob ich diesen Hang schaffen kann. Sogar die jungen Pilger rutschen immer wieder zurück, stützen sich im Sand ab - und sind dann doch ganz schnell oben.
Vielleicht habe ich irgendwo ein Zeichen übersehen? Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das der richtige Weg ist, und gehe ein gutes Stück zurück. Aber alle gehen hier weiter, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als auf allen vieren da hochzukrabbeln. Zwischendurch setze ich mich in den Sand, ruhe mich aus und schaue mir die Landschaft an.
Gleich jenseits der Hügelkuppe ist ein Gasthaus mit Tischen und Sonnenschirmen davor. Man könnte hier auch übernachten. Es riecht nach Gebratenem, und aus dem Kamin steigt der Rauch auf. Drinnen und auch draußen sind alle Tische besetzt. Ich glaube, es handelt sich um eine Reisegruppe, die hier ihr vorbestelltes Essen einnimmt. Das würde auch die vielen jungen Menschen ohne Rucksack auf dem letzten Stück Weg erklären.
Dicht an der Hauswand hocke ich nun auf einem Stuhl und trinke meinen Orangensaft. Das Essen für die anderen Tische wird einfach über meinen Kopf hinweggereicht, was mir sehr unangenehm ist. Das ganze Geschehen erinnert mich sowieso eher an ein Volksfest, und diese Unruhe macht mich richtig nervös. Eigentlich wollte ich mir auch etwas zu essen bestellen, aber ich fühle mich fehl am Platz. So greife ich nach meinem Rucksack, und schon bin ich wieder unterwegs.
Nun geht es immer bergab, erst auf der Landstraße, später durch ein Dorf, wo ich am Brunnen noch einmal meine Wasserflaschen fülle, und weiter auf sehr steinigen Feldwegen, die eher einem ausgewaschenen Flussbett gleichen. Parallel zu diesem Weg verläuft die Landstraße. Neidisch sehe ich hinüber. Schließlich klettere ich durch einen Zaun, überquere die Wiese und bin wieder auf der Straße. Eine gute Entscheidung: Jetzt bin ich sogar schneller als die anderen Pilger, die rechts von mir den steinigen Weg gehen.
Glücklich in mein Wandern vertieft, genieße ich die Schönheit rings um mich herum. An den steilen Hängen, die links zum Tal hin abfallen, bestellen die Bauern ihre Felder. Sie fahren mit ihren Treckern so schräg den Hang hinauf, dass ich meine, sie müssten umkippen. Die mit großen Steinplatten, Hecken und Sträuchern umzäunten Wiesen sind mit Blumen gesprenkelt; Gelb ist die vorherrschende Farbe, doch auch andere Blüten lugen immer wieder hervor. Über die Bergkuppen hinweg steht meterhoch das blühende Heidegewächs. Gibt es etwas Schöneres als den Anblick einer solch zauberhaften Landschaft?
Ich gönne mir eine längere Rast. Inmitten einer Blumenwiese sitze ich auf einem Stein und esse die Reste vom Vortag. Nicht viel, aber zum Glück habe ich noch eine Banane. Sie ist schon reichlich zerquetscht; aber der Hunger treibt’s rein, haben wir als Kinder immer gesagt.
Plötzlich spüre ich ein verdächtiges Jucken und Brennen oberhalb meines linken Innenknöchels. An der schon leicht geröteten Stelle finde ich zwei winzige Einstiche.
Wie konnte das nur passieren? Mit den hohen Stiefeln, den dicken Wandersocken, die noch höher reichen, und der
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