Mein Jakobsweg
hätte sie bewirken können? Hatte ich wirklich alles aus meiner Zeit als Sekretärin im Krankenhaus vergessen? Ich kann mir mein damaliges Verhalten nur so erklären: Die Angst vor der Konfrontation mit der Krankheit lähmte mein Denken und Handeln. Und so glaubte ich, was ich glauben wollte.
Wie aber der Oberarzt einer onkologischen Abteilung ein halbes Jahr lang ein solches Risiko eingehen konnte, indem er meine Milz immer größer werden ließ, ist mir noch heute ein Rätsel. Erst jetzt in der Rückschau wird mir in seiner ganzen Tragweite bewusst, wie skandalös das eigentlich war. Als mir an jenem Abend im November der Bereitschaftsarzt vom Röntgentisch half, sagte er: Fallen Sie mir bloß nicht hin, sonst kriege ich sie noch nicht mal mehr bis zum OP.
Endlich wurde ich operiert. Die Milz wog drei Pfund. Später unterlief mir einmal ein freudscher Versprecher; ich sagte: »Als ich von der Milz entbunden hatte...«
Als Sekretärin hatte ich selbst mehrere Jahre in einer onkologischen Abteilung gearbeitet. Aber eines Tages war mir die psychische Belastung unerträglich geworden. Ich nahm sogar eine Rückstufung meines Gehalts in Kauf, nur um von da wegzukommen.
Selbstverständlich wusste ich von meiner Arbeit her, was ein Non-Hodgkin-Lymphom bedeutet. Doch ich muss wohl gut im Verdrängen sein, denn als bei mir selbst ein solches Lymphom diagnostiziert wurde, benahm ich mich, als hätte ich niemals zuvor davon gehört. Nur so kann ich mir erklären, dass ich mich ohne jede Beeinflussung für eine Strahlentherapie in dem gleichen Haus entschied. Allerdings wollten mich die großen und bekannten Kliniken auch gar nicht aufnehmen.
Es sollte eine totale Bestrahlung erfolgen. Erst der Unterkörper, drei Wochen lang. Dann der Oberkörper, bis über die Ohren. Diese Therapie verspricht komplette Heilung. Aber um welchen Preis!
Was es heißt, so intensiv bestrahlt zu werden, ist kaum vorstellbar. Der Magen nimmt kein Essen mehr an, der Darm hält den Stuhl nicht. Alle Schleimhäute sind betroffen; jeder Geschmack, jeder Geruch ist extrem verstärkt und nicht zu ertragen. Ich konnte nicht essen, nicht trinken und magerte entsetzlich ab.
Vier Bestrahlungen fehlten mir noch für den Unterkörper, als abgebrochen werden musste, weil die Blutwerte zu schlecht waren. Jetzt, als es zu spät war, wurde ich sogar in der Strahlenabteilung stationär aufgenommen. Aber ich erhielt keinerlei Infusionen mit Vitaminen oder blutbildende Medikamente. Sie sagten, das Blut müsse sich von selbst regenerieren. Doch die täglichen Laborwerte blieben so schlecht wie bei der Aufnahme.
Nach Tagen des Dahindösens dachte ich: Die lassen dich hier verschimmeln, du musst hier weg. Mittlerweile war es Februar. Ausgerechnet am Karnevalssonntag packte ich meine Tasche. Als mich Peter am Nachmittag besuchen kam, drückte ich ihm die Tasche in die Hand und sagte: Komm, lass uns gehen.
Mein Hausarzt war erschüttert über meinen Zustand. Er gab mir erst mal Infusionen mit reichlich Vitaminen und suchte eine neue Klinik. Auf dem Umweg über mehrere andere Ärzte erhielt ich dann sogar einen Vorstellungstermin bei einem sehr bekannten Professor in der Strahlenabteilung der Uni-Klinik Essen. Dort hieß es jedoch, eine Bestrahlung sei in diesem späten Stadium nicht mehr sinnvoll und bringe keine günstigen Ergebnisse.
Für eine Chemotherapie wiederum waren zu diesem Zeitpunkt die Lymphknoten noch zu klein. Weil die Laborwerte aufgrund der verbesserten medikamentösen Behandlung sich positiv entwickelten, wurde ich schließlich entlassen. Doch die Lymphknoten wurden größer und größer und immer schmerzhafter. Täglich konnte ich an meinem Hals ertasten, wie sie weiter anschwollen. Aber bei jeder neuen Untersuchung hieß es, wir müssen noch warten.
Irgendwann wurde es unerträglich. Inzwischen hatte ich ein Jahr lang immer erhöhte Temperatur gehabt. Dann stieg das Fieber plötzlich sprunghaft an, ich bekam Atemnot und hielt die Schmerzen einfach nicht mehr aus und wollte unbedingt in ein Krankenhaus.
Jetzt sofort, sagte ich zu meinem Hausarzt. Suchen Sie eines hier in der Nähe, das für mich zuständig ist, die weite Fahrt nach Essen überstehe ich nicht mehr. Am deutlichsten erinnere ich mich an die Ratlosigkeit und Verzweiflung von Peter in diesem Moment. Immer war er an meiner Seite, immer hat er mich unterstützt, aber nun schien es ihm, als könne er gar nichts mehr tun. Mein Gott, hat er mir leidgetan!
Jedenfalls hat mich damals das
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