Mein Jakobsweg
zu erkennen. Man müsste ein Fernglas haben. Vor allem um die aufregend schöne Kulisse der Pyrenäen deutlicher zu sehen. Etwas unscharf ist sie zwar, aber sonst scheint sie noch immer zum Greifen nah. Dabei bin ich jetzt schon tagelang unterwegs.
Herberge und Gaststätte sind hier noch in einer Hand, wie es wohl früher überall Sitte war. Für unser leibliches Wohl sorgt die Herbergsmutter. Gerade heute feiert sie ihre goldene Hochzeit. Deshalb ist auch die ganze Familie da und die örtliche Presse. Die jüngste Tochter ist sowieso zur Stelle, sie hilft ihr tagtäglich.
50 Jahre haben auch wir bald erreicht, Peter und ich. Das feierliche Treiben um mich her lässt meine Gedanken weit in die Vergangenheit schweifen.
Erste Begegnung mit Peter
Wie war ich nervös, wenn wir uns trafen! Davor bekam ich kaum einen Bissen runter. Mit roten Wangen ging ich ihm entgegen. Wurde erst ruhiger, wenn er seinen Arm um meine Schultern legte.
Für den Rest des Abends litt ich Hunger. Das wenige Geld, das wir hatten, reichte ja mal gerade für Kinokarten, oder um irgendwo zwei Glas Bier zu trinken.
Rosenmontag hatten wir uns kennengelernt. Ich kam aus Braunschweig. Meine Familie war vor einem Monat ins Ruhrgebiet umgezogen. Wegen meiner Arbeit konnte ich erst jetzt nachkommen.
Ich hatte bereits eine Ausbildungsstelle zur Säuglingsschwester an einem Braunschweiger Krankenhaus in Aussicht gehabt, die ich wegen des bevorstehenden Umzugs dann wieder aufgegeben hatte. Doch brauchte man damals den Nachweis eines Haushaltsjahres. Dieses musste ich abschließen, bevor ich meiner Familie folgen konnte.
Immerhin hatte ich erreicht, dass ich ein paar Tage früher von der Arbeit freigestellt wurde: Wenn ich schon ins Ruhrgebiet kam, wollte ich wenigstens an diesem Rosenmontag schon dabei sein, mit eintauchen in diese ausgelassene Fröhlichkeit, die ich bisher nur im Fernsehen hatte anschauen können, in fadem Schwarz-Weiß.
Die Stadt war voller Menschen. Auf dem Bahnhof fand ich den Ausgang nicht und fragte jemanden. Großes Gelächter um mich herum. Ein paar Jungens sagten, komm, das findet die nie. Wir bringen dich.
Ein sehr großes Mädchen mit langen blonden Zöpfen und Dirndl trug meinen Koffer. Das war mir unangenehm, ich fragte, ob der nicht zu schwer für sie sei.
Mach dir keine Sorgen, das schafft der schon, sagten die anderen Jungens.
Dann schoben sie mich in die Linie neun, meinen Koffer hinterher. Die Bahn war voller Karnevalsjecken. Sie warfen Luftschlangen und sangen Karnevalslieder und schunkelten.
Komm, trink ein Tröpfchen.
Danke, aber Schnaps mag ich nicht.
Fisternöllekes, sagte jemand und legte ein Stück Zucker in ein Glas, das er aus der Manteltasche zog. Dann goss er einen Korn darüber. So lernte ich gleich bei meiner Ankunft diese Spezialität des Ruhrpotts kennen. Das Bedürfnis, sie selbst zu probieren, hatte ich allerdings nie.
Wie komme ich zu dieser Adresse, versuchte ich mich in der ausgelassenen Stimmung bemerkbar zu machen.
Da muss ich auch lang, sagte eine junge Frau - diesmal war es wirklich eine Frau -, ich helfe Ihnen tragen. Auf dem Weg von der Haltestelle zu unserem Ziel sagte sie: Wenn Sie wollen, dann hole ich Sie heute Abend ab. Ich gehe ins Bahnhofshotel, da feiert der MSV.
Ich verstand nur Bahnhof. Wer war MSV? Aber immerhin, sie ging zu einer Rosenmontagsfeier und hatte mich eingeladen. Natürlich kam ich mit! Schon in zwei Stunden wollte sie mich abholen. Gerade noch Zeit, um mich umzuziehen. Ich zerrte meine Sachen aus dem Koffer. Die Wahl war nicht schwer: Ich hatte nicht viel.
An diesem Abend, in diesem Bahnhofshotel, lernte ich Peter kennen. Er war 19 und ich 17. Ich war in einer solch ausgelassen fröhlichen Stimmung, wie ich sie von mir selbst nicht kannte. Schunkelte mich in den Karneval hinein, sang lauthals die Lieder mit, obwohl ich eine entsetzliche Singstimme habe und keinen Text wusste. Immer der Polonaise hinterher, rannte ich durch alle Säle, und wir tanzten unentwegt. Und ich konnte doch nicht einen einzigen Tanzschritt! Mitten in diesem Trubel sind wir uns begegnet, Peter und ich. Und es war, als würden wir uns Ewigkeiten kennen.
Es war wohl gegen zwei, als ich sagte, ich müsse unbedingt nach Hause. In ein Zuhause, das ich noch gar nicht kannte. Ich war ja kaum lang genug dort gewesen, um meine Familie zu begrüßen — die ohnehin schon ungehalten war, weil ich gleich am Abend meiner Ankunft ausgehen wollte. Hoffentlich gab das nicht doch Ärger,
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