Mein Jakobsweg
verlassenen Dorf Arrés, das gerade erst wieder dabei ist, sich zu einer neuen Lebensgemeinschaft zu entwickeln. Über viele Jahre hinweg waren Häuser und Gehöfte dem Verfall überlassen; erst in neuester Zeit sind ein paar mutige Menschen zurückgekehrt, um alles wieder aufzurichten. Unsere Herberge ist von einer Pilgervereinigung aus Valencia restauriert worden - eine gewaltige Arbeit für die Männer und Frauen, denn das Haus war bis auf die Grundmauern verfallen. Zurzeit leben in Arrés gerade mal fünf Einwohner! Das sind weniger, als die Herberge Betten für Pilger hat.
Dort geht es mir richtig gut: Ich habe warmes Wasser zum Duschen und bekomme eine Suppe, eine richtig frisch gekochte Suppe mit viel Gemüse und vermutlich Lammfleisch. Den Nachmittag verbringen wir Pilger gemeinsam vor dem Haus in der Sonne. Abends wird gemeinsam gekocht, gegessen und gespült. Für Essen und Schlafen lege ich zehn Euro in den Kasten: Der Verein lebt von Spenden.
Später am Abend schauen wir von der Höhe eines Felsens gen Westen - gen Santiago, könnte ich auch sagen —, wo die Sonne den Himmel verfärbt und glutrot hinter dem hohen Gebirge versinkt.
Es ist die Natur, die uns im Gleichgewicht hält und die wir achten müssen, um weiterzubestehen. So gehe ich diesen Weg auf dem Boden der Erde, tagaus, tagein, um mich zu finden, um bei mir zu sein. Ja, manchmal leide ich auch. Auch das ist Teil der Natur. Prägend aber bleiben das Glück und die Freude, die aus diesem Weg hervorgehen.
Von Arrés nach Artieda
Oh, wie in funkelnder Weite dort,
die sich hügelwärts wölbt,
die Geräusche des Abends vergehen.
Eugenio Montale
U m sechs schnüre ich die Stiefel draußen vor dem Haus, zögere aber, die Jacke anzuziehen, so warm ist es schon.
Stella aus Graz geht gleich in dünnem T-Shirt und kurzer Hose. Sie muss noch ihre Sachen ordnen, also verabschieden wir uns. Sie wird sowieso schneller sein als ich. Am Abend werden wir wieder in der gleichen Herberge sein.
Es geht hügelauf und hügelab, zwischen Feldern und Wiesen. Der Duft von reifem Getreide liegt in der Luft; leise wiegen sich Klatschmohn und Kornblumen im Wind. Nur selten steht ein Baum am Wegesrand, der Schatten spenden könnte.
Einen interessanten Kontrast bilden zwischen den Wiesen immer wieder Areale, auf denen nicht ein Grashalm wächst. In diesen trockenen, windzerfressenen »Badlands« liegen winzigste Schiefersteinchen übereinander; als ich sie berühre, zerfallen sie ohne den geringsten Widerstand zu Staub. Dazwischen hat das Regenwasser an manchen Stellen tiefe Rinnen gebildet, sodass man glauben könnte, dort lägen riesige Tiere. In dieser Formation könnten es Wale sein oder vielleicht Seekühe, die dicht am Strand liegen, wie man es bisweilen in Filmen sieht.
Nach dem Durchqueren zweier Bachläufe komme ich wieder durch grünes Land. Das Gezwitscher der Vögel begleitet mich.
Ein kleines Stückchen gehen Maria und Renaia neben mir. Elke, mucho calor, sagen sie.
Sí, sí, bestätige ich. Wenn sogar die Spanierinnen sagen, es sei zu heiß, muss es ja stimmen!
Knapp 20 Kilometer sind es von Arrés bis zur nächsten Herberge in Artieda. Schon sehe ich das Ziel vor mir: Oben auf dem Berg vor tiefblauem Himmel, da liegt dieser Ort. Da muss ich rauf.
Gerade diese Anstiege aber sind meine größte Schwäche. Mein Wasser ist aufgebraucht, und nirgends ist Schatten. So quälen mich Hitze und Durst; in jeder Kurve ruhe ich mich auf den Mauern aus, welche die Straße vor dem Abhang begrenzen. So komme ich nur langsam voran.
Endlich bin ich oben bei der Herberge. Im Schatten großer Bäume empfangen mich meine Weggefährten. Da ist Claude, der von Montpellier gepilgert ist, in Jaca ein paar Tage ruhen musste, weil sein Knie geschwollen war; Maria und Renaia, die hier nur essen wollen und in Ruesta Quartier nehmen; Pedro und Paco sind da und auch Stella, die mit ihrem Freund diesen Pilgerweg gehen wollte. Nun aber ist sie allein und weiß nicht, ob sie weitergehen soll.
Sogleich bekomme ich ein großes Glas Wasser; Pedro rückt mir einen Stuhl in den Schatten. Ich bin so erschöpft, dass ich kaum ein Wort sagen kann.
In Arrés hatte Pedro an dem heißen Herd in riesigen Töpfen das Essen für uns alle gekocht, da habe ich ihn schon sehr bewundert.
Allmählich komme ich zu mir und kann den Ausblick genießen, der weit über das Land reicht, durch das ich gerade gepilgert bin. Vielleicht ist ganz da hinten sogar die Anhöhe von Arrés
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