Mein Leben, die Liebe, und der ganze Rest
mal.
„Herrje, Conni! Was ist denn?“ Das Gesicht meiner Mutter sieht komisch aus, so von oben übers Treppengeländer hinweg. Und außerdem ein bisschen ärgerlich. Hatte sie diese genervte Falte zwischen den Augen schon immer oder ist die gerade spontan entstanden? Egal …
„Meine Jeans! Die hellblaue, ausgefranste … Wo ist die?“
„Woher soll ich das wissen?“
Hm, das ist nicht wirklich die Antwort, die ich erwartet hatte.
„Sie war in meiner Kommode“, jaule ich. „Und jetzt ist sie weg!“
Meine Mutter senkt den Kopf, spreizt Daumen und Zeigefinger weit auseinander und legt sich die Zeigefingerspitzen jeweils links und rechts an die Schläfen, als ob sie plötzlich Kopfschmerzen hätte. Sie sieht aus wie eine amerikanische Schauspielerin mit akuter Migräne. Total theatralisch irgendwie. Als ob sie mir nonverbal eine wichtige Mitteilung machen möchte. Zum Beispiel, dass sie einen unglaublich harten Arbeitsvormittag hinter sich hat, gerne ihre Ruhe hätte und ich meinen Ton mäßigen soll. Aber das geht im Moment leider gar nicht. Dazu ist die Sache viel zu wichtig. Ich versuche es noch einmal.
„Vielleicht ist sie in der Wäsche?“, frage ich hoffnungsvoll und ziemlich freundlich, wie ich finde.
Fingerspitze an Schläfe. Seufzen. Leichtes Kopfschütteln.
„Conni, muss das jetzt sein? Ich habe einen harten Vormittag hinter mir und hätte gerne etwas Ruhe. Hat das nicht Zeit bis später?“
Warum denken Eltern immer, nur sie hätten harte Vormittage? Glauben die tatsächlich, Schule ist Wellness? Ich hätte auch gerne meine Ruhe. Aber noch lieber hätte ich meine Jeans. Und zwar sofort, wenn’s geht!
Ich: „Ich brauch die aber! Dringend!!“
Meine Mutter: „In der Wäsche ist sie nicht, da bin ich sicher. Hast du in den Schrank geguckt?“ Seufz, seufz.
Ich: „Ja, hab ich. Da ist sie auch nicht.“
Pause.
Ich, genervt: „Mann, Mama!“
Meine Mutter, noch genervter: „Welche meinst du überhaupt? Etwa die alte, kaputte? Die mit der eingerissenen Tasche?“
Ich, hektisch: „Jaja!! Genau die!“
Meine Mutter winkt ab. „Die hab ich aussortiert.“
„ WAS ???“
„Conni! Die konnte ich nicht mal mehr in die Altkleidersammlung geben!“
Die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen meiner Mutter könnte dem Grand Canyon Konkurrenz machen. Locker.
Auf Socken schlittere ich die Treppe runter. „Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht? Wie kommst du dazu – “
„Es reicht!“, würgt meine Mutter mich ab.
„Mir reicht’s auch! Und wie! Du kannst doch nicht einfach meine Sachen aussortieren!“ Ich bin außer mir und kaum zu bremsen.
„Wann hattest du die Hose das letzte Mal an?“, fragt meine Mutter.
„Woher soll ich das wissen? Keine Ahnung“, antworte ich verwirrt.
„Eben“, kommt es zurück. „Du hast die Jeans schon so lange nicht mehr angezogen, dass du sie bis heute überhaupt nicht vermisst hast. Jetzt ist sie weg. Wo ist das Problem?“
Meine Mutter dreht sich um und marschiert ins Wohnzimmer.
Wie? Was? Moment mal!
„Wo das Problem ist?“, keife ich ihren Rücken an. „Das Problem ist, dass du in meinen Sachen rumgewühlt und mir was weggenommen hast! Die Jeans gehört mir! Ich geh auch nicht einfach an deinen Schrank, nehm was raus und werf es weg, nur weil du es lange nicht mehr anhattest!“
Ganz langsam dreht meine Mutter sich um.
„In der Garage steht ein blauer Müllsack“, sagt sie. Mehr nicht.
Wir starren uns an. Dann schnappe ich mir den Garagenschlüssel vom Bord und gehe betont langsam an ihr vorbei, obwohl ich am liebsten rennen würde.
Erst in der Garage kann ich wieder atmen und schnappe nach Luft. Mein Herz klopft. Ich fasse es nicht! Meine Mutter war in meinem Zimmer! Sie war an meiner Kommode und hat in meinen Sachen gewühlt! Was sie wohl außer meiner Jeans noch aussortiert hat?
Mir fallen meine alten Tagebücher ein, die in einem Schuhkarton ganz hinten in meinem Kleiderschrank liegen, und mir wird heiß und kalt zugleich. Ob sie die etwa auch ganz zufällig gefunden und gelesen hat? Alles über mich und Phillip steht da drin. Alles! Wie es war, als wir uns zum ersten Mal geküsst haben; wie es sich anfühlt, wenn … Einfach alles! Vielleicht liegen die Tagebücher in der Altpapiertonne, weil meine ach so tolle Mutter die unfassbare Idee hatte, ich würde sie nicht mehr brauchen?
Panisch reiße ich den Deckel der Papiertonne hoch und spähe hinein. Sie ist leer bis auf ein paar alte Zeitschriften und Reklamezettel.
Weitere Kostenlose Bücher