Mein Leben für dich
Augen, um das ekelhafte Schwindelgefühl loszuwerden, das mich plötzlich überfällt. Mist, denke ich, ich werde doch nicht krank werden nach dieser Regen- und Wasseraktion? Ausgerechnet heute …
»Danke«, murmle ich, »aber ich bin okay, ganz bestimmt. Ich weiß, wer Mia ist, und ich weiß auch, wer ich bin. He, wenn du willst, komm doch mal wieder vorbei, dann machen wir da weiter, wo wir am Mittwoch unterbrochen wurden.« Ich will einfach so schnell wie möglich das Thema wechseln.
»Ja, das wäre schön. Wie wäre es denn gleich mit heute Nachmittag?«
»Oh, also ausgerechnet heute ist es ziemlich schlecht«, sage ich ausweichend und hoffe, dass ich mich bis zu meinem Treffen mit Rick wieder fitter fühle, denn das Gespräch mit ihm wird ganz sicher nicht leicht werden. »Aber am nächsten Mittwoch zum Beispiel. Gleiche Zeit?«
»Gut, ja, ich werde mal sehen, ob ich mich da freimachen kann.«
Wir verabschieden uns und legen auf. Unter der Dusche lasse ich das Telefonat mit Tanja noch einmal Revue passieren. Das Schlimme ist, mit ihrer Frage hat sie einen Punkt bei mir getroffen, den ich selbst seit Stunden versuche zu verstehen und einzuordnen, aber er lässt sich weder ignorieren noch greifen und schwirrt und sticht in mir herum wie eine wild gewordene Hummel. Vorgestern, nachdem Mia in eine Wolldecke eingewickelt auf meinem Bett kauerte, klein, mit feuchten Locken und verlaufener Wimperntusche, da ist etwas echt Seltsames mit mir passiert, das mir eine Scheißangst eingejagt hat. Ich hatte bei ihrem Anblick das Gefühl, der glücklichste Mann auf Erden zu sein. Weil ich Mia tagtäglich so nahe sein darf und ich derjenige war, den sie anrief, als sie jemanden brauchte. Aber gleichzeitig konnte ich kaum mehr atmen, weil ich eine nie gekannte Traurigkeit in mir gespürt habe. Und zwar, weil mir klar wurde, dass ich nie mehr sein werde als bloß ihr Aufpasser, der dafür bezahlt wird, sie zu beschützen. Und das war der Grund, weshalb ich mich auf einen Schlag komplett überfordert fühlte und kurz mit dem Gedanken spielte, das Handtuch zu schmeißen. Nachdem ich sie vom Boot geholt hatte und sie vor mir stand, durchnässt und zitternd vor Angst, da wünschte ich mir plötzlich nichts mehr, als sie einfach an mich zu ziehen und sie festzuhalten, sie mit meinem Körper zu wärmen und zu beruhigen. Ich wollte ihr zeigen, dass ich für sie da bin, aber nicht als ihr Bodyguard, sondern als ihr Freund, der kein Geld als Gegenleistung erwartet, sondern bloß ihr Lächeln, ihre Stimme, ihr wahres Gesicht, ganz einfach … sie. Aber ich durfte es nicht, ich darf noch nicht einmal daran denken, denn allein die Vorstellung ist absurd. Mia Falkenstein und ich, das würde nie im Leben funktionieren, wir sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und dann ist da noch etwas: Ich mag nichts lieber, als wenn Mia sich mir gegenüber öffnet und vergisst, sich zu verstellen. Aber was mache ich?
Ich habe Mia in den letzten Wochen so oft aufgezogen, indem ich ihr sagte, sie würde sich bloß verstellen und jemanden spielen, der sie gar nicht ist. Aber was mache ich denn? Ich habe ihr kein Sterbenswörtchen darüber verraten, wer ich eigentlich bin, dass ich meine Ausbildung geschmissen, jahrelang bloß mit anderen Losern in der Gegend abgehangen bin, meine Mutter angepumpt und mich als Türsteher in irgendwelchen Discos durchgeschlagen habe, während ich ein Mädchen nach dem anderen abschleppte, von denen ich in kein einziges verliebt war. Und dann die Sache mit Rick und seiner Clique, mein Bruder, der im Knast sitzt, weil er schwerer Verbrechen beschuldigt wird … Ich weiche ihren Fragen nach meinem Leben immer nur aus. Und deshalb kann, darf ich mir einfach nichts vormachen: Mia hat jemand Besseren verdient, jemanden mit Niveau, der ihr das Leben schenken kann, das sie sich wünscht. Und das Einzige, was ich aus dieser ganzen Situation mitnehmen kann, solange ich den Job habe, ist gute Kohle, ein schickes Apartment und die Chance, Falkensteins Tochter als Bodyguard beiseitezustehen. Und das ist für einen wie mich schon verdammt viel. Ich sollte einfach dankbar sein für das, was mir da gerade widerfährt, und nicht nach immer noch mehr streben oder mich in absurden Gedanken gehen lassen, denn damit schade ich mir nur selbst. Mia ist ein einmaliges Erlebnis von kurzer Dauer, an das ich in zwanzig Jahren wie an einen fernen, verschwommenen Traum zurückdenken werde. Sie wird zu einer Anekdote werden, die ich irgendwann
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