Mein Leben im Schrebergarten
Kollege hatte der ostdeutsche Gartenmensch nicht dreihundert, sondern dreitausend Ratschläge auf Lager. Laut Vorwort war er bei der Bearbeitung der neunten Auflage seines Werkes gestorben, wahrscheinlich an Überarbeitung. Dieser Gartenfetischist hatte tatsächlich für jeden Tag im Jahr ein ganzes Arbeitsprogramm entwickelt, dessen Sinn darin bestand, dem Gärtner keine Sekunde Ruhe zu gönnen. Gemäß seinem Ratgeber sollte der Gärtner zum Beispiel im Januar die borkige Rinde von den Bäumen »sorgsam abkratzen« und im Februar ein mir unbekanntes »Strohsubstrat« mit dem Austernseitling impfen.
Bei dieser Lektüre fielen mir schnell die Augen zu, und ich machte das Licht in der Laube aus. Fünf Minuten später machte ich es wieder an. Ich war nicht allein. Eine äußerst muntere Gesellschaft, bestehend aus fliegenden und kriechenden Ameisen, Mücken, Spinnen, exotischen gelben Motten, die wahrscheinlich vom Licht meiner Lampe angezogen wurden, sowie grünen und gestreiften Schnecken, Käfern mit und ohne Flügel, kleinen durchsichtigen Mistkerlen mit Haaren auf dem Rücken und etlichen anderen schwer zu beschreibenden Mikroorganismen, teilte mit mir die Bude. Die meisten benahmen sich friedlich. Sie jagten und aßen einander, griffen mich aber nicht direkt an. Manche krabbelten auf mir herum und versteckten sich, wenn ich das Licht anmachte. Aber sobald es wieder dunkel war, kamen sie aus ihren Verstecken und kitzelten mich. Einige hielten mich für ein Lebensmittel und tranken mein Blut. Ich versuchte, den kleinen Biestern eine Lektion zu erteilen und ihnen klarzumachen, wer hier der Chef und Hauptpächter war.
Im Kampf verging die Zeit schnell. Wie ein Leuchtturm stand mein Garten im grünen Meer der Obstbäume – im Zehnminutentakt ging das Licht in der Laube an und aus, man hörte Schläge, Flüche, dann wieder Stille. Zweimal überlegte ich, den Rest der Nacht draußen unter dem Apfelbaum auf einer Matratze zu verbringen. Aber im Gras und auf den Bäumen gab es noch mehr Ungeziefer. Dazu kamen unsichtbare Vögel, die im Chor ihr freies Leben in einer wundervollen Welt voller leckerer Schnecken und Fliegen besangen. Manchmal schien mir, als würde ich in diesem Chor auch die Stimme des Palermo-Papageien heraushören.
Als Pächter hatte ich keine Chance, in diesem natürlichen Chaos für Ordnung zu sorgen. Um fünf Uhr durchlöcherte die Sonne meine Laube von links nach rechts. Ich öffnete die Tür, und die Insekten, die mit mir in der Laube übernachtet hatten, flogen an die frische Luft, trafen auf ihre Artgenossen, die draußen im Garten übernachtet hatten, und tauschten laut ihre Erfahrungen aus. Ich steckte den Kopf unter eine kalte Dusche, schaute in den Spiegel und kratzte mir die Mückenstiche von der Stirn.
Die Ereignisse der ersten Nacht konnten trotz allem die Freude nicht trüben, die mich beim Anblick des Sonnenaufgangs erfüllte. In der Natur schien die Sonne besonders intensiv. Sie gab dem Schrebergarten alle Farben wieder – die Rosen wurden richtig gelb, die grünen Äpfel bekamen einen roten Anstrich, sogar die fetten Fliegen auf dem Tisch und der Stacheldraht auf dem Gartentor strahlten golden, sobald sie unter die frische Sonne gerieten. Leider waren die meisten Früchte und Beeren noch nicht reif für ein echtes Gartenfrühstück. Ich pflückte ein paar Erdbeeren, setzte mich in die Sonne, nahm das Buch Rat für jeden Gartentag , legte es mir aufs Gesicht und schlief noch einmal ein.
Um halb zwölf wurde ich von Herrn Kern, dem fleißigen Biogärtner von gegenüber, geweckt, der im Trainingsanzug und mit Fahrradhelm mit seinem Rasenmäher durch den Garten lief. Was machte er so früh an einem Wochentag im Garten?, überlegte ich. Aus unseren früheren Gesprächen wusste ich, dass Herr Kern einer regelmäßigen Arbeit nachging. Als leitender Angestellter einer Bankgesellschaft musste er von Montag bis Freitag ab zehn Uhr morgens riskante Investitionen im Ausland und Finanzierungspläne für große Bauvorhaben prüfen. Stattdessen mähte er seinen Rasen an einem Mittwoch um zwölf. Ich stellte mir vor, wie Herr Kern mit seinem Dienstwagen zur Arbeit fuhr, die Aufgaben in der Abteilung verteilte, den Computer anschaltete und zahlreiche Ordner über seinen Tisch verteilte. »Bin heute sehr beschäftigt«, rief er seiner Sekretärin zu, »habe viele Termine außerhalb!« Dann schloss er die Tür seines Büros, zog sein schickes schwarzes Sakko aus, holte einen Trainingsanzug aus
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