Mein Leben in 80 B
einfach, nicht mehr über die Reise zu sprechen, mich schnell zu verabschieden, wenn es losging, und die Zeit auf Sylt ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Und das hatte ich auch vor.
***
Der Berliner Hauptbahnhof kam mir wie immer gigantisch vor. Ich war von Falkensee mit der Regionalbahn hierhergefahren und musste nun in den Zug nach Hamburg umsteigen. Bevor dieses Monstrum gebaut wurde, war ich immer am Bahnhof Zoo ausgestiegen. Selbst dort hatte ich mich oft schon überfordert gefühlt, weil sich so unglaublich viele Menschen auf den wenigen Bahnsteigen drängten. Aus Hamburg war ich natürlich einiges gewöhnt, aber in Berlin hatte ich immer den Eindruck, die Uhren drehten sich schneller, die Menschen wären hektischer und ständig in Eile. Das Tempo der Stadt war höher, als ich es von den anderen deutschen Großstädten kannte. Der neue Hauptbahnhof machte mich fertig. Hätte ich doch bloß Tonis Angebot angenommen, mich direkt hierherzufahren, dann hätte er mir die Suche nach dem richtigen Bahnsteig abgenommen. Mit Hilfe eines freundlichen Mitreisenden hatte ich meine beiden Koffer aus dem Waggon geschafft und stand jetzt immer noch zwischen all den Menschen und versuchte, mich zu orientieren.
Bis zur Abfahrt nach Hamburg hatte ich noch etwas Zeit und überlegte, ob ich mir einen Kaffee kaufen sollte. Leichter gesagt als getan. Es gab hier die kleine digitale Anzeigentafel für die Reiseverbindungen, Bänke, Ticketautomaten und so viele Menschen wie am langen Sonnabend auf dem Ku’damm. Aber ich konnte weder ein Café oder einen Ausgang noch eine Treppe sehen – geschweige denn einen Fahrstuhl. Also schleppte ich mein Gepäck den Bahnsteig entlang, bis ich zu den Rolltreppen kam, die mich tatsächlich zu einer Ebene mit Geschäften, Kaffee-zum-Mitnehmen-Shops und Zeitschriftenläden brachten. Das Durcheinander wurde noch durch bunt dekorierte künstliche Tannenbäume und Mädchen in Engelskostümen verstärkt, die für eine Parfümerie-Kette Werbung machten. Endlich fand ich auch eine Bäckerei, in der ich mich mit Wegzehrung versorgte, bevor ich meinen Bahnsteig suchen ging. Den Kaffee verschob ich auf den Speisewagen im Zug, den hätte ich unmöglich noch tropffrei transportieren können.
Später, in Hamburg-Altona, war das Umsteigen Richtung Sylt wesentlich einfacher: übersichtliche Bahnsteige, deutlich durchnummeriert und alle auf einer Ebene. Die Nord-Ostsee-Bahn nach Westerland stand schon bereit, und ich suchte mir in dem türkisfarbenen Großraumwagen einen Fensterplatz, damit ich bei der Fahrt über den Nord-Ostsee-Kanal und über den Hindenburgdamm durchs Wattenmeer nach Sylt alles ganz genau sehen konnte.
Wir hielten in Niebüll, dann in Klanxbüll, der letzten Station auf dem nordfriesischen Festland. Und dann konnte ich links und rechts die Weite des Wattenmeers sehen. Im Steilflug zischten Möwen über die Nordsee, um sich dann von der Luft tragen zu lassen. Dieses Stück der Strecke genoss ich immer besonders. Bedauerlich nur, dass man das Fenster nicht weit aufreißen konnte, um die Salzluft auf den Lippen zu schmecken und sich richtig durchpusten zu lassen vom winterlichen Wind. Mir wäre danach gewesen, ein bisschen Seeluft zu schnuppern, auch wenn der graue Himmel mit den dicken Wolken nicht gerade zu einem ausdauernden Strandspaziergang einlud. Die Nordsee vermisste ich in Brandenburg am allermeisten, und ich freute mich darauf, in den kommenden Tagen die Salzluft und das Meer zu genießen.
Der Westerländer Bahnhof war ganz nach meinem Geschmack – nur zwei Bahnsteige, und jetzt im Winter stiegen höchstens zehn Menschen mit mir aus dem Zug, die wie ich nach Urlaub aussahen. Die anderen Mitreisenden arbeiteten vermutlich in Hotels oder Restaurants auf der Insel oder gingen Apartments putzen.
Es roch bereits hier nach Meer, und ein paar Möwen flogen kreischend über das Bahnhofsgebäude hinweg. Die weiß gefrorenen Zweige der Bäume hoben sich wie auf einer Postkarte von dem strahlend blauen Himmel ab. Schade, dass die Station nicht direkt ans Meer gebaut worden war, ich hätte gern einen Blick über die Nordsee geworfen. Stattdessen musste ich mit den hausgroßen grünen Männchen vorliebnehmen, die sich gegen den momentan kaum vorhandenen Wind stemmten. «Reisende Riesen» hatte der Künstler die Figuren genannt. Meine Sehnsucht nach dem Meer musste noch eine Weile warten.
Rechts vom Bahnhofsgebäude zwischen den wartenden Taxis stand wild winkend meine kleine,
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