Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
zahllose Fragen, auf die ich Antworten brauchte. Ich begriff nicht, warum sie die Verbindung zwischen uns so gründlich und vollständig gekappt hatte. Ich brauchte eine Erklärung.
Der Sonntagmorgen fand mich bei den Vorbereitungen zum Abstieg in das Höllenreich des Fundamentalismus. Von außen sah die Kirche aus wie eine Kentucky-Fried-Chicken-Bude mit einem Türmchen. Ich wusste, dass ich da nicht hingehörte, aber ich musste es tun, denn sonst würde ich keine Ruhe finden. Ich drückte mich hinein, setzte mich in die letzte Bank und verfolgte das Treiben. Die Leute begrüßten einander lautstark, schüttelten sich die Hände und schlugen einander auf den Rücken, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich sah, dass Leute aus dem Augenwinkel zu mir herüberschauten, aber keiner sprach mich an. Keiner lächelte mir zu, schüttelte mir die Hand oder schlug mir auf den Rücken. Keiner sagte auch nur Hallo.
Ich suchte die Reihen ab und sah Deanna mit ihrer Familie mitten in der Kirche. Ich hatte sie seit einem Jahr nicht gesehen, aber sie hatte sich nicht verändert. Ich weiß nicht genau, was ich empfand, aber das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich konnte nicht atmen. Sie sah mich an … und schaute wieder weg. Nicht mal ein Wimpernzucken zeigte, dass sie mich erkannt hatte. Was sollte das bedeuten? Ich hatte etwas erwartet – irgendetwas –, aber ihr Blick ging über mich hinweg, als wäre ich gar nicht da.
Volle anderthalb Stunden saß ich da, während der rotgesichtige Prediger brüllte und mit der Faust auf die Kanzel einschlug, aber ich nahm kein einziges Wort auf. Ich starrte Deannas Rücken an und versuchte, sie mit der Kraft meines Willens dazu zu bringen, dass sie sich umdrehte und irgendeine Reaktion zeigte, aber sie tat es nicht.
Als es vorbei war, ging ich hinaus und blieb auf dem Gehweg stehen. Ich überlegte immer noch, was das alles bedeutete, während ich sah, wie ihre Familie ins Auto stieg und wegfuhr. Ich drehte mich um und wollte gehen, als jemand rief: » Hey! Ich will mit dir reden! « Der Prediger starrte mich an, ohne mit der Wimper zu zucken, als er auf mich zukam.
Mit verschränkten Armen blieb er vor mir stehen und steckte mir nicht die Hand entgegen. » Was ist das? « , fragte er und zeigte auf eine Anstecknadel an meiner Jacke. Es war das Kreuz vom Cover des Guns-N’-Roses-Albums Appetite for Destruction. » Was Satanisches? «
» Ganz sicher nicht « , sagte ich, aber er hatte Zweifel.
» Ich will nicht, dass du herkommst und den Leuten Unbehagen bereitest. « Er sah aus, als steigere er sich immer mehr in seine Wut hinein.
» Keine Sorge. Ich komme nicht wieder. « Ich ging weg und hatte immer noch nicht begriffen, was das alles bedeutete.
NEUNZEHN
Als es Mai wurde, hatten Domini und ich uns ein bisschen gestritten, aber es war nichts Ernstes. Hauptsächlich das, was bei Leuten vorkommt, die zu viel Zeit miteinander verbracht haben und eine kleine Pause brauchen. Ich hatte zwei Nächte bei meinen Eltern geschlafen, um ein bisschen Platz zum Atmen zu schaffen. Eines Morgens stand ich auf und machte mir eine schöne große Schale mit Froot-Loops-Frühstücksflocken. Froot Loops sind der Hammer für mich. Ich mampfte glücklich vor mich hin und dachte darüber nach, dass die Milch in meiner Schale bald rosa sein würde, und ich schaltete den Fernseher ein. Nichts passt besser zu Froot Loops als Cartoons. An diesem Tag gab es aber keine Cartoons. Auf jedem Kanal lief die gleiche Nachrichtensondersendung über drei ermordete Jungen, die am Tag zuvor gefunden worden waren. In allen Berichten wurde das Gleiche gesagt: In einem Wald in der Nähe waren die verstümmelten Leichen von drei achtjährigen Jungen entdeckt worden. Es sah aus, als seien sämtliche Reporter der Welt in West Memphis eingefallen.
Nicht nur im Fernsehen wurde darüber gesprochen – die ganze Stadt war in Aufruhr. Die Geschichte war in aller Munde, und schon schwirrten die Gerüchte umher. Im Laufe des nächsten Monats hörte ich dieselben zwei Worte unzählige Male: » Satanisten « und » Opferung « . Mit jedem Tag, der verging, ohne dass ein Verdächtiger verhaftet wurde, verstärkte sich das Gerede, und diese Worte schlugen immer tiefere Wurzeln in den Köpfen der Klatschweiber in dieser Stadt.
Am selben Tag, am Freitag, dem 7. Mai, an dem ich die ersten Nachrichtenmeldungen sah, fing die Polizei an, vor meiner Haustür herumzuschnüffeln, auch wenn das später bestritten wurde und sie
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