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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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gequietscht hätten. John stellte sie ab. Die Straßen waren geräumt, aber ihr Wagen war der einzige auf der Straße. Alice hatte die gelassene, friedliche Stille nach einem tobenden Schneesturm immer gemocht, aber heute ging sie ihr auf die Nerven.
    John bog mit dem Wagen auf den Mount-Auburn-Friedhof ein. Auf dem Parkplatz war eine bescheidene Fläche frei geräumt worden, aber die Gehwege und Grabsteine auf dem Friedhof selbst lagen noch immer unter einer Schneedecke.
    »Ich hatte schon befürchtet, dass es noch so aussehen würde. Wir werden ein andermal wiederkommen müssen«, sagte John.
    »Nein, warte. Ich will es mir nur kurz ansehen.«
    Die uralten schwarzen Bäume mit ihren knorrigen, knotigen, mit weißem Raureif überzogenen Ästen beherrschten dieses winterliche Wunderland. An den hoch aufragenden, kunstvoll gestalteten Grabsteinen der einst Reichen und Berühmten konnte sie ein paar graue Spitzen sehen, die aus dem Schnee hervorschauten, aber mehr nicht. Alles andere lag darunterbegraben. Verweste Leichen in Särgen, unter Schmutz und Stein begraben, Schmutz und Stein, unter Schnee begraben. Alles war schwarz und weiß und gefroren und tot.
    »John?«
    »Was?«
    Sie sagte seinen Namen zu laut, durchbrach die Stille zu plötzlich, erschreckte ihn.
    »Nichts. Wir können gehen. Ich will nicht hier sein.«

    »Wir können versuchen, später diese Woche noch mal hinzufahren, wenn du willst«, sagte John.
    »Wohin?«, fragte Alice.
    »Zum Friedhof.«
    »Oh.«
    Sie saß am Küchentisch. John schenkte Rotwein in zwei Gläser und reichte ihr eines davon. Sie schwenkte den Wein im Glas, aus Gewohnheit. Sie vergaß regelmäßig den Namen ihrer einen Tochter, der Schauspielerin, aber sie konnte sich immer noch erinnern, wie man den Wein im Glas schwenkte und dass sie es gern tat. Verrückte Krankheit. Sie mochte diese verwirrende Bewegung im Glas, seine blutrote Farbe, seinen kräftigen Geschmack von Traube, Eiche und Erde, und die Wärme, die sie verspürte, wenn er ihren Magen erreichte.
    John stand vor der offenen Kühlschranktür und nahm ein Stück Käse, eine Zitrone, irgendetwas Würziges, Flüssiges und etwas rotes Gemüse heraus.
    »Wie wär’s mit Hühnchen-Enchiladas?«, fragte er.
    »Gut.«
    Er öffnete das Gefrierfach und wühlte darin herum.
    »Haben wir irgendwo noch Hühnchen?«, fragte er.
    Sie gab keine Antwort.
    »Oh nein, Alice.«
    Er wandte sich um, um ihr etwas in seinen Händen zu zeigen. Es war kein Hühnchen.
    »Das ist dein Blackberry, er war im Gefrierfach.«
    Er drückte auf die Knöpfe, schüttelte ihn und rieb ihn ab.
    »Sieht aus, als ob Wasser reingelaufen ist. Wir können ihn uns ansehen, wenn er aufgetaut ist, aber ich glaube, der ist hinüber«, sagte er.
    Sie brach augenblicklich in herzzerreißende Tränen aus.
    »Ist ja gut. Wenn er kaputt ist, kaufen wir dir einen neuen.«
    Wie albern, warum rege ich mich eigentlich so über einen kaputten elektronischen Organizer auf? Vielleicht weinte sie in Wirklichkeit über den Tod ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihres Vaters. Vielleicht löste es irgendeine Emotion in ihr aus, die sie zuvor schon verspürt hatte, aber auf dem Friedhof nicht richtig hatte ausdrücken können. Das klang logischer. Aber das war es nicht. Vielleicht symbolisierte der Tod ihres Organizers den Tod ihrer Stellung in Harvard, und sie betrauerte den Verlust ihrer Karriere. Das klang auch logisch. Aber was sie verspürte, war ein untröstlicher Schmerz über den Tod des Blackberrys selbst.

FEBRUAR 2005
    Sie ließ sich auf den Stuhl neben John fallen, gegenüber von Dr. Davis, emotional erschöpft und intellektuell ausgelaugt. Sie hatte diverse neuropsychologische Tests in diesem kleinen Raum bei dieser Frau gemacht, der Frau, die die neuropsychologischen Tests in dem kleinen Raum durchführte, quälend lange. Die Wörter, die Informationen, die Bedeutung in den Fragen der Frau und in Alice’ eigenen Antworten, all das war wie Seifenblasen, die Kinder an einem windigen Tag aus diesen kleinen Plastikzauberstäben bliesen. Sie schwebten rasch und in verwirrenden Richtungen von ihr fort, und es erforderte enorme Anstrengung und Konzentration, sie zu verfolgen. Und selbst wenn es ihr gelang, ein paar von ihnen vielversprechend lange im Auge zu behalten, waren sie doch jedes Mal, schwupp!, allzu schnell verschwunden, zerplatzten ohne ersichtliche Ursache, wurden vergessen, als hätten sie nie existiert. Und jetzt war Dr. Davis mit dem Zauberstab an der

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