Mein mutiges Herz
umgaben, zu viel tranken und ständig Ärger mit der Polizei hatten. Mütter warnten ihre Töchter vor Boggs und seinen Freunden, die als schlechter Umgang für eine wohlerzogene junge Dame galten.
Tom hatte wenigstens so viel Anstand, Lindsey einen Besuch abzustatten, um den sie auch die vier anderen Freunde ihres Bruders gebeten hatte.
Nachdem er ihre Tante kurz begrüßt hatte, folgte Tom ihr in den Salon, und Lindsey bat ihn, sich zu setzen, machte sich aber nicht die Mühe, ihm eine Erfrischung anzubieten.
„Rudy sagte, er sei in der Nacht des Mordes in Ihrem Haus eingeladen gewesen. Er erinnert sich daran, in Begleitung des Opfers, einer Schauspielerin namens Phoebe Carter, Ihr Haus verlassen zu haben. Offenbar war er so betrunken, dass er sich nicht entsinnen kann, sie nach Hause begleitet zu haben.“
Tom verlagerte das Gewicht auf dem Stuhl. „Ja, er ging mit ihr. Ich erinnere mich, dass er seine Kutsche vorfahren ließ.“ Boggs, ein paar Jahre älter als Rudy, war ein gut aussehender Mann mit dunklen Haaren und braunen Augen. Er spielte seine Attraktivität weidlich aus und prahlte damit, jede Frau verführen zu können.
„Phoebe war ein hübsches Ding und sehr gefällig … wenn Sie wissen, was ich meine.“
Sie wusste, was er meinte. Ihr Bruder hatte dazu beigetragen, dass sie allmählich weit mehr über leichte Mädchen wusste als noch vor wenigen Wochen.
„Rudy brachte sie also in seinem Wagen nach Hause.“
„Das war wohl seine Absicht. Da sie unterwegs getötet wurde, kam sie dort vermutlich nie an.“
Lindsey versagte es sich, die Augen zu verdrehen. „Anzunehmen. Da mein Bruder nicht ihr Mörder ist, wie wir beide wissen, muss er sie wohl irgendwo abgesetzt haben. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo das gewesen sein könnte?“
Tom räusperte sich. „Nun ja, in jener Nacht fand noch ein anderes Fest statt … keine Abendgesellschaft, die Sie und die Damen Ihres Bekanntenkreises besuchen würden. In einem Haus, in dem einem Mann … ehm … alle Wünsche erfüllt werden. Phoebes Mitbewohnerinnen wollten dorthin, um sich, wie ich vermute, ein paar Extra-Moneten zu verdienen. Ich dachte, Phoebe wollte Rudy mit in ihre Wohnung nehmen, aber vielleicht hat er sie stattdessen zu diesem Fest begleitet.“
„Wo fand dieses Fest denn statt?“
Er erhob sich und trat ans Fenster. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber sprechen soll. Ich will mir keine Feinde machen, verstehen Sie?“
Lindsey sprang auf. „Nun hören Sie mir gut zu, Tom Boggs. Mein Bruder hält Sie für seinen Freund. Wollen Sie ihn hängen sehen?“
Boggs drehte sich zu ihr um. „Nein … nein, natürlich nicht“, stammelte er verdattert.
„Dann sagen Sie mir, wo dieses Fest stattfand.“
„Im Obergeschoss des Blue Moon, eines Spielsalons.“
Lindsey furchte die Stirn. „Rudy sagte, er wachte im Hinterzimmer einer Spielhölle namens Golden Pheasant auf. Kann es sein, dass er die Namen verwechselt hat?“
„Das Golden Pheasant ist gleich um die Ecke. Vielleicht ist er später noch dahin gegangen.“
Lindsey versuchte, die Versatzstücke dieser Neuigkeiten zu ordnen. Rudy könnte die Frau im Blue Moon abgesetzt haben und ins Golden Pheasant gegangen sein, wo er in seinem Rausch eingeschlafen und am nächsten Morgen aufgewacht war. „Gibt es noch etwas, Tom, irgendetwas, was Rudy helfen könnte?“
Er lächelte einfältig und ein wenig verlegen. „Na ja, wir waren in der Nacht alle ziemlich blau. An mehr erinnere ich mich auch nicht.“
Trunkenbolde und Radaubrüder, von denen sich keiner wirklich erinnerte – oder erinnern wollte.
Dennoch, diese Auskünfte brachten sie einen Schritt weiter. Sie würde alles noch einmal mit Rudy durchsprechen, vielleicht konnte sie seinem Gedächtnis doch noch auf die Sprünge helfen.
Erst nachdem Boggs gegangen war, kam ihr in den Sinn, dass er und seine Freunde in jener Nacht gleichfalls mit Phoebe Carter zusammen gewesen waren. Vielleicht kannten die Taugenichtse auch Molly Springfield. Wieso verfolgte die Polizei nicht auch Toms Spuren?
Die Gespräche mit Rudys anderen Freunden verliefen ähnlich und bestätigten ihre Vermutung, dass Molly und Phoebe bei den Männern, die in diesen Spelunken verkehrten, wohlbekannt waren. Wieso hatte die Polizei ausschließlich Rudy im Visier?
Gab es etwas, was seine Freunde wussten und ihr verschwiegen?
Oder genügte der Polizei die Tatsache, dass Rudy der Letzte war, der Phoebe Carter lebend gesehen hatte, als
Weitere Kostenlose Bücher