Mein mutiges Herz
schon nicht davon abbringen lässt, nimm wenigstens Thor als Begleiter mit. Er ist ein Krieger und wird dich beschützen, falls es zu Handgreiflichkeiten kommt.“
Lindseys Neugier war geweckt. „Was meinst du damit, er ist ein Krieger?“ Krista sprach nur selten über die Herkunft ihres Ehemanns oder ihres Schwagers.
„Ach, das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls ziehen die Männer auf der Insel, von der sie kommen, häufig in den Kampf, um ihre Familien zu verteidigen. Ich würde Leif bitten, dich zu begleiten, aber er ist verreist. Ich rede mit Thor und bitte ihn …“
„Ich brauche Thors Hilfe nicht“, fiel Lindsey ihr heftig ins Wort. Er war der letzte Mensch, den sie sich als Begleiter wünschte. Der anmaßende Riese ging ihr in vieler Hinsicht auf die Nerven. Sobald er sie mit seinen auffallend blauen Augen ansah oder sie seine tiefe melodische Stimme hörte, konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Wenn sie ehrlich war, übte Thor eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Und trotzdem versuchte sie sich einzureden, dass dies nichts als eine ungebührliche körperliche Anziehung zwischen einer jungen Frau und einem gut aussehenden Mann war. Sie würde vor Verlegenheit in den Boden versinken, wenn er von ihrer Schwäche für ihn erfuhr. Für die bevorstehende Aufgabe musste sie jedoch einen klaren Kopf behalten.
„Die Begleitung von Elias reicht vollkommen. Ich besuche diese Etablissements vor Mitternacht und halte mich nur so lange darin auf, bis meine Fragen beantwortet sind.“
„Mir gefällt das alles nicht, Lindsey.“
„Mir auch nicht sonderlich. Aber bitte, Krista, behalte mein Vorhaben für dich. Kann ich auf dein Schweigen zählen?“
Krista nickte zögernd, kreuzte allerdings die Finger hinter ihrem Rücken. Sie würde mit niemandem darüber sprechen – außer mit dem Mann, der ihre Freundin beschützen konnte.
Mit ein paar alten Kleidungsstücken ihres Bruders über dem Arm kam Lindsey vom Speicher herunter. Ihre Mutter brachte es nicht übers Herz, irgendetwas wegzuwerfen, und der Speicher war vollgestopft mit abgetragenen Kleidern, ausgedienten Möbeln und durchgelegenen Matratzen.
Lindsey hatte einen Schiffskoffer nach dem anderen durchwühlt, bis sie Sachen fand, die Rudy im Internat getragen hatte. Damals hatte er etwa ihre Kleidergröße gehabt.
„Was, in aller Welt, hast du vor?“, fragte ihre Tante, die ihr im Flur begegnete.
„Ach, ich habe nur ein paar alte Sachen vom Speicher geholt, um sie in die Kleidersammlung für Bedürftige zu geben.“ Das war nicht wirklich gelogen; nachdem ihr Zweck erfüllt war, wollte sie das Zeug tatsächlich fortgeben.
Tante Delilah nickte anerkennend. „Eine ausgezeichnete Idee. Deine Mutter hortet diesen Unrat, als sei sie im Armenhaus aufgewachsen.“
„Sie wird es gar nicht bemerken, da sie sich nie auf den Dachboden begibt.“
„Es ist auch vernünftiger, wenn sie getragen werden und nicht auf dem Dachboden von Motten zerfressen werden.“ Tante Delilah eilte weiter den Flur entlang, und Lindsey atmete erleichtert auf.
Eigentlich hätte sie ihre Tante gern ins Vertrauen gezogen. Aber wenn sie von Lindseys Vorhaben wüsste, würde sie in einen Gewissenskonflikt geraten. Delilah war zwar immer gerne bereit, ihr zu helfen, durfte aber das Vertrauen nicht missbrauchen, dass Lindseys Eltern in sie setzten, als sie Lindsey unter ihren Schutz stellten.
Lindsey breitete die Kleidungsstücke – ein braunes Jackett und dunkelbraune Hosen – auf dem Bett aus. Sie würde das Haus erst verlassen, nachdem Rudy ausgegangen war. Diese Gewohnheit hatte er nicht abgelegt, allerdings trank er nicht mehr so viel wie früher und kam zu einigermaßen christlichen Zeiten nach Hause. Offenbar hatte seine Begegnung mit der Polizei doch Eindruck auf ihn gemacht.
Gespannt probierte Lindsey Hose und Jacke an, die weit genug waren, um ihre weiblichen Rundungen zu verbergen. Mit einem prüfenden Blick überzeugte sie sich davon, dass sie als junger Mann durchgehen konnte. Zufrieden verstaute sie die Kleider im Schrank. Nach dem Abendessen wollte sie sich zeitig zurückziehen, sich von ihrem Mädchen bei den Vorbereitungen zur Nachtruhe helfen lassen und zu Bett gehen. Sobald alle im Haus schliefen, wollte sie aufstehen und in ihre Männerrolle schlüpfen.
Sie warf noch einen Blick in den Spiegel. Was sollte sie mit ihrem Haar tun? Eine Wollmütze würde genügen. Ein Hut wäre zwar passender, aber sie begab sich in eine Gegend, in der
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