Mein mutiges Herz
dich kenne, müsste ich dich von zwei Dienern an den Stuhl festbinden lassen, um dich von deinem frevelhaften Vorhaben abzubringen.“
„Du bist eine sehr kluge Frau, Tante Dee.“
Delilahs tadelnder Blick flog über das anstößige Kleid. „Vielleicht könntest du wenigstens diese gewagten Blößen mit einem Spitzentuch …“
Lindsey schmunzelte. „Ich fürchte, damit würde ich die erwünschte Wirkung verderben.“
Resigniert seufzte Delilah. „Vermutlich hast du recht.“
Lindsey drückte ihrer Tante einen Kuss auf die Wange. „Ich muss gehen. Thor wartet auf mich.“
„Ist dir eigentlich bewusst, wie unpassend dieser Mann für dich ist? Er hat weder Titel noch Vermögen, und er ist nicht einmal Engländer. Thor Draugr ist gewiss kein Mann, mit dem du Umgang pflegen solltest.“
„Er will mir nur helfen. Thor und ich sind lediglich Freunde.“
Tante Delilah zog eine Braue hoch. „Es ist sehr schwer, mit einem so gut aussehenden Mann lediglich befreundet zu sein.“
Lindsey musste ihr im Stillen zustimmen. „Wie dem auch sei …“ Sie griff nach ihrem Umhang und dem Retikül und wandte sich zur Tür.
Thor würde auf sie warten.
Ihr Herz machte einen Satz.
Unruhig ging Thor vor dem Gartentor auf und ab. Es war bereits nach Mitternacht. Vielleicht war Lindsey verhindert.
Oder das Mädchen war endlich zur Vernunft gekommen.
Das Holzgatter quietschte in den Scharnieren, und eine Gestalt im langen Umhang huschte herbei.
„Tut mir leid wegen der Verspätung“, entschuldigte sich Lindsey. „Meine Tante kam in dem Augenblick in mein Zimmer, als ich gehen wollte. Sie forderte eine Erklärung, wieso ich dieses grässliche Kleid trage, und ich sah mich gezwungen, ihr die Wahrheit zu gestehen.“
„Ihre Tante ließ zu, dass Sie in diesem Hurenkleid das Haus verlassen?“
Sie hob ihre schmalen Schultern. „Rudy droht der Galgen. Es bleibt uns keine andere Wahl.“
Er sah sich von Frauen umgeben, die eine für seinen Geschmack entschieden zu leichtfertige Haltung an den Tag legten. Heute Nacht begleitete er eine dieser Frauen, die glaubte, keine andere Wahl zu haben, als sich in der Aufmachung eines Flittchens in eine verrufene Gegend zu wagen, um ihren Bruder zu retten, der das Risiko, das sie für ihn einging, möglicherweise gar nicht verdiente.
Ihren Leichtsinn missbilligte er zutiefst, musste sich aber auch eingestehen, dass er ihren Mut bewunderte.
Er nahm Lindsey beim Arm und führte sie zur wartenden Kutsche. Als sie den Mann im Wageninneren wahrnahm, verharrte sie vor dem schmalen Eisentreppchen.
„Mein Bruder begleitet uns“, erklärte Thor. Lindsey hatte Krista von dem Überfall vor dem Blue Moon erzählt, die wiederum Leif davon unterrichtet hatte, der darauf bestand, mitzukommen. „Ich sagte ihm, er werde nicht gebraucht, aber vielleicht ist es besser so.“
Lindsey lächelte. „Nun denn, unter dem Schutz zweier Hünen fühle ich mich geborgen wie in Abrahams Schoß.“ Sie nahm Leif gegenüber Platz, der mit seiner kräftigen Statur fast die gesamte Rückbank einnahm.
Thor setzte sich neben sie, seine Schulter berührte die ihre. Zwischen ihnen schien ein Funke überzuspringen, und ihr Blick flog zu ihm. Thor wandte sich ab, in der Hoffnung, sie bemerke das Verlangen nicht, das diese flüchtige Berührung in ihm auslöste.
Während der Schein der Straßenlaternen durch den fahrenden Wagen streifte, erhaschte er kurze Blicke auf das grellrote Kleid unter ihrem Umhang. Sie hatte Rouge auf Wangen und Lippen gelegt, ihre seidig schimmernde, honigfarbene Lockenfülle wallte ihr über die Schultern. In dieser vulgären Aufmachung müsste sie eigentlich aussehen wie eines von Madame Fortiers Freudenmädchen, was jedoch nicht der Fall war.
Ihr fein geschnittenes, ovales Gesicht war wunderschön. Er sah sie an, und als sie lächelte, sich ihre kirschroten Lippen einladend öffneten, schoss ihm das Blut in die Lenden.
Bei den Göttern, er hätte sie nicht küssen dürfen. Er begriff immer noch nicht, welcher Dämon ihm den Verstand vernebelt hatte. Dabei hatte er sich geschworen, sie niemals wissen zu lassen, wie sehr er sie begehrte.
Welch grausamer Scherz, dass er nie von süßeren Lippen gekostet, nie zuvor ein heftigeres Verlangen nach einer Frau verspürt hatte. Dass diese Frau ausgerechnet Lindsey Graham sein musste, eine störrische, eigenwillige Person, also genau die Sorte Frau, die er verabscheute, erzürnte ihn.
Und erfüllte ihn mit Sorge. Dieses wilde Verlangen
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