Mein mutiges Herz
nicht in Tränen auszubrechen.
Sie wandte sich an den blassen, grauhaarigen Herrn mit goldgeränderter Brille im zerknitterten Gesicht, der mit eingefallenen Schultern neben Rudy stand.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Marvin, dass Sie sich gleich um Rudy gekümmert haben“, sagte sie.
„Auch ich danke Ihnen, Jonas“, fügte Tante Dee hinzu. „Ich würde es allerdings vorziehen, Sie unter angenehmeren Umständen zu sehen.“
„Ich hatte gehofft, es würde nicht so weit kommen“, entgegnete Marvin mit einer leichten Verneigung.
„Uns ergeht es nicht anders.“
„Was sollen wir nun tun, Mr. Marvin?“, fragte Lindsey bang. „Wie bekommen wir meinen Bruder frei?“ Sowohl ihre Tante als auch Jonas Marvin hatten versucht, ihre Eltern auf dem Kontinent zu erreichen, was ihnen bislang nicht gelungen war. Nun lag die Verantwortung bei den beiden Frauen und dem Anwalt.
„Vor drei Tagen beschlossen Rudolph und ich, einen Privatdetektiv zu engagieren, einen Mann namens Harrison Mansfield. Ich hoffe sehr, seine Nachforschungen werden bald Fakten zutage fördern, die Rudolphs Unschuld beweisen.“
Lindsey dachte an den privaten Ermittler Petersen, auf den Krista so große Stücke hielt, der allerdings noch nicht von seiner Reise zurückgekehrt war.
„Ich habe mich auch mit Avery French in Verbindung gesetzt, falls wir seine Dienste benötigen – was ja nun einzutreffen scheint. Mr. French ist einer der wortgewaltigsten Strafverteidiger in London. Ich werde ihn noch heute vom Stand der Dinge unterrichten, damit er sich umgehend mit dem Sachverhalt vertraut machen kann, um seine Verteidigungsrede vorzubereiten.“
Lindsey drehte sich fast der Magen um. Das war die ungeschminkte Realität. Wenn der wahre Täter nicht ausfindig gemacht wurde, könnte Rudy tatsächlich hingerichtet werden.
„Möchtest du dich setzen, meine Liebe?“, fragte Tante Dee besorgt, die Lindseys bleiches Gesicht bemerkt hatte.
„Danke, es geht schon. Es fällt mir nur … schwer zu glauben, dass dies alles wirklich geschieht.“
Der Rechtsanwalt nickte mit ernster Miene. „Bedauerlicherweise müssen wir uns den Tatsachen stellen.“
Lindsey straffte die Schultern. Das war wahrlich der falsche Zeitpunkt für einen Nervenzusammenbruch. Sie wandte sich an Rudy. „Seit unserem letzten Gespräch hattest du Zeit zum Nachdenken. Kannst du dich mittlerweile an weitere Einzelheiten erinnern, was in jener Nacht geschah, als Phoebe ums Leben kam?“
Rudy schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass wir gemeinsam das Fest bei Tom Boggs verlassen haben.“
„Erinnerst du dich, wer noch auf diesem Fest war, abgesehen von deinen Freunden?“
„Entfernte Bekannte. Ich entsinne mich, Winslow und Finch gesehen zu haben – du erinnerst dich doch an die beiden, Schwester?“
„Natürlich.“ Edward Winslow und Martin Finch, noch zwei Taugenichtse.
„Wer war noch da?“
„Eine Menge Leute, die ich nicht kannte.“
„Gibt es noch etwas, woran du dich erinnerst?“
„Ich weiß nicht mehr, wo ich mit ihr hingegangen bin. Mein Gott, wenn ich mich nur erinnern könnte.“
„Im Blue Moon gab es ebenfalls ein Fest. Bist du vielleicht mit ihr dorthin gegangen?“
Rudy furchte die Stirn. „Gut möglich.“ Er warf Tante Dee einen zerknirschten Blick zu. „Da gibt es etwas, was ich dir verschwiegen habe. Nachdem wir Toms Haus verlassen hatten, brachte Phoebe mich in ein Nachtlokal … ich erinnere mich nicht mehr an den Namen. Dort wurde Opium geraucht … unten im Keller.“
Tante Dee umklammerte die Stuhllehne. „Gütiger Himmel, Rudolph.“
„Ich habe es nur ein einziges Mal probiert, Tantchen, und ich schwöre, ich tue es nie wieder.“
„Ach, Rudy.“ Constable Bertrams Worte klangen Lindsey in den Ohren. Kein Mensch kennt den anderen wirklich. War es möglich, dass ihr Bruder im Drogenrausch fähig wäre, einen Mord zu begehen?
Sie nahm sich vor, mehr über dieses Rauschgift in Erfahrung zu bringen und herauszufinden, ob Opium einen Menschen so sehr verändern konnte.
„Ich wollte mich doch nur amüsieren“, sagte Rudy leise. „Ich hätte nie im Leben daran gedacht, dass so etwas passieren könnte.“
Lindsey rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab. „Du musst dir keine Sorgen machen, Bruderherz. Wir werden alle Spuren verfolgen und gemeinsam den Schuldigen überführen, das verspreche ich dir.“
Eindringlich sah sie Rudy an, las die Pein und Angst in seinen Augen. Ihr Entschluss festigte sich. Mochte ihr Bruder
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