Mein mutiges Herz
durch die Gegend, hatten so manchen Streich ausgeheckt.
Wortlos wandte sie sich zum Gehen, während ein harter Knoten ihr die Kehle zuschnürte. Als sie die breite Steintreppe hinunterging, ihre Tante zur Rechten, Thor zur Linken, legte er tröstend eine große Hand um ihre Mitte. Sie war wütend auf ihn, weil er sie gezwungen hatte, die Wahrheit zu sagen, und dennoch war sie froh um seine Nähe.
Er neigte den Kopf dicht an ihr Ohr. „Ziehen Sie später das rote Kleid an“, raunte er ihr zu. „Wir treffen uns um Mitternacht an der Gartentür.“
Sie sah mit großen Augen zu ihm hoch. „Das rote Kleid?“
„Die Männer werden denken, Sie gehören mir in dieser Nacht, und werden Sie nicht belästigen.“
Lindsey schluckte schwer. Die Vorstellung, das unzüchtige Kleid noch einmal zu tragen, rief ihr den brutalen Überfall in der Gasse ins Gedächtnis zurück. Sie glaubte beinahe, die klobigen Hände des groben Kerls auf ihrer Haut zu spüren, und dachte schaudernd daran, was passiert wäre, wenn Thor nicht rechtzeitig aufgetaucht wäre.
Die Männer werden denken, Sie gehören mir in dieser Nacht.
Statt, wie vorgesehen, den Verlobungsball der Tochter des Duke of Pelham zu besuchen, sollte sie in die Rolle von Thors Flittchen schlüpfen. Ein völlig absurder Vorschlag. Darauf konnte sie sich unmöglich einlassen.
Andererseits musste sie an Rudy denken.
Sie war froh, das sündige Kleid nicht verbrannt zu haben.
Lindsey, Thor und Tante Delilah verließen das Polizeirevier und begaben sich umgehend zum Gefängnis, einem grauen Gebäude mit einer abschreckenden Fassade aus roh behauenem Mauerwerk. Hinter den dicken Mauern der berüchtigten Strafanstalt wurden Männer und Frauen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten. Im Außengelände von Newgate wurden Hunderte Insassen öffentlich hingerichtet, ein Spektakel, das viele Zuschauer anlockte.
Die Sozialreformerin Elizabeth Fry hatte bereits 1813 gegen die unbeschreiblichen Haftbedingungen protestiert und Verbesserungen gefordert, die allerdings nur sehr zögernd durchgesetzt wurden. Trotz einiger Neuerungen blieb das Gefängnis ein Furcht einflößender Ort, und für einen jungen Mann aus wohlhabendem Haus bedeutete es ein furchtbares Grauen, hinter diesen Mauern eingesperrt zu sein.
Lindsey erschauerte, als sie den düsteren Ort betraten. Nachdem die erforderliche Eintrittsgebühr bezahlt war, führte ein feister Wärter sie einen langen, schwach erhellten Korridor entlang, in dem es modrig roch. Das Echo ihrer Schritte begleitete sie. Im Ostflügel von Newgate waren die Gefangenen unter noch schrecklicheren Bedingungen untergebracht. Dutzende von Häftlingen waren auf engstem Raum in einer Gemeinschaftszelle zusammengepfercht, kaum zumutbare Bedingungen, nicht einmal für die Ratten, die das Schicksal der Verdammten teilten.
„Das ist kein Ort für eine Dame“, stellte Thor mit finsterer Miene fest. „Ihre Tante und Sie dürften nicht hier sein.“
„Ich will meinen Bruder sehen“, entgegnete Lindsey schroff. „Wir mussten kommen.“
Danach schwieg er, aber Lindsey wusste, dass er keineswegs einverstanden war.
Und dann schloss der fette Gefängniswärter die schwere Eichentür zu Rudys kahler Zelle auf. Ihr Bruder saß an einem wackeligen Holztisch, zusammen mit Jonas Marvin, dem Rechtsanwalt ihres Vaters. Beide Männer erhoben sich, als die Besucher auf der Schwelle standen.
„Ich warte draußen“, sagte Thor.
Lindsey nickte. „Danke.“ Rudy hatte genug Ärger am Hals, um sich auch noch Sorgen über den Umgang seiner Schwester mit einem nicht standesgemäßen Mann zu machen. Tante Dee hatte sich bislang gottlob jeder abfälligen Bemerkung über den nordischen Hünen enthalten.
„Guten Tag, Schwesterherz.“ Rudy wirkte so blass und verängstigt, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
Mit einem verkrampften Lächeln eilte sie zu ihm und nahm ihn in die Arme. „Geht es dir gut? Hat man dich schlecht behandelt?“
„Es geht mir leidlich. Tante Dee hat sich an Mr. Marvin gewandt, der sofort kam, für die Hafterleichterung bezahlte und dafür sorgte, dass ich umgehend eine Einzelzelle zugewiesen bekam.“
In diesem Flügel des Gefängnisses herrschten etwas bessere Bedingungen, in deren Genuss Häftlinge kamen, die es sich leisten konnten, für dieses Privileg zu bezahlen. In jeder Zelle stand eine Pritsche, ein Tisch und zwei Stühle. Trotzdem war es eine bedrückend enge Zelle, und Lindsey biss die Zähne aufeinander, um
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