Mein mutiges Herz
kringelte sich in seiner Magengrube wie eine Schlange.
Nach dem nächsten Tanz führte der Lieutenant Lindsey auf die Terrasse. Thor schlich sich lautlos näher. Er wusste, dass er kein Recht dazu hatte, konnte aber nicht widerstehen.
„Die Leute reden, Miss Graham“, sagte der Polizeioffizier. „Sie tuscheln über Sie und Ihren Bruder. Sie sollten den Ball verlassen. Ich sehe Ihnen an, wie unangenehm Ihnen das Fest ist.“
„Es kümmert mich nicht, was die Leute reden. Rudy ist unschuldig. Meine Tante und ich wollen der Gesellschaft zeigen, wie sehr wir von seiner Unschuld überzeugt sind. Ich will die Leute wissen lassen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bevor jeder Verdacht von Rudy genommen wird. Er hat keinen Mord begangen.“
Der Lieutenant lehnte sich gegen die Balustrade. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen. Aber Sie verstehen hoffentlich meine Situation.“
„Natürlich verstehe ich das, Michael.“ Sie blickte unter dem dichten Kranz ihrer Wimpern zu ihm auf. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Sie beim Vornamen nenne – wenn wir alleine sind.“
Grimmig biss Thor die Zähne aufeinander.
Der Lieutenant hob ihre Hand und drückte einen Kuss auf ihre behandschuhten Finger. Thor stand im Schatten und musste hilflos zusehen.
„Ich habe nichts dagegen“, sagte Harvey.
Thors Zorn flammte noch stärker auf. Verflixtes Frauenzim mer. Er fragte sich, ob sie wieder eine Rolle spielte oder ob sie sich tatsächlich zu dem gut aussehenden Lieutenant hingezogen fühlte.
„Wenn das alles vorüber ist“, sagte Harvey, „darf ich Ihnen vielleicht einen Besuch abstatten?“
„Herzlich gerne, Michael.“
Thor ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er den Kerl am Kragen gepackt, von der Terrasse gezerrt und zu Boden geschlagen. Danach hätte er sich Lindsey über die Schulter geworfen und entführt.
„Wie gesagt, mir ist völlig klar, in welch prekärer Situation Sie sich befinden, aber vielleicht können Sie mir dennoch etwas sagen, was uns irgendwie weiterhelfen könnte?“
„Ich kann Ihnen den Namen der Zeugin nennen, aber auch nur, weil er morgen ohnehin in der Times veröffentlicht wird. Ein Reporter hat ihn ausfindig gemacht, wie, weiß ich nicht. Er will mit dieser Sensationsmeldung den anderen Zeitungen zuvorkommen.“
„Ich muss mit ihr sprechen, um herauszufinden, was sie genau gesehen hat.“
„Ihr Name ist Mary Pratt. Sie lebt in einer Mansardenwohnung in einem baufälligen Haus in Raven’s Court.“
„Hat sie den Mord tatsächlich gesehen?“
„Nein. Sie wusste nur, dass etwas geschehen war, aber nicht was, bis ihr jemand den Sachverhalt berichtete. Allerdings will sie den Mann gesehen haben, der vom Tatort geflüchtet ist.“
„Wieso hat sie ihre Aussage nicht schon früher bei der Polizei zu Protokoll gegeben?“
„Aus Angst, man würde ihr keinen Glauben schenken. Vielleicht befürchtete sie auch, das nächste Opfer zu werden, wenn sie der Polizei helfen würde, den Täter zu finden.“
„Mein Bruder tauchte gegen vier Uhr früh im Golden Pheasant auf. Hat die Frau ausgesagt, wann sie den Mann davonlaufen sah?“
„Gegen halb vier. Ein Nachtwächter fand Phoebe Carters Leiche am nächsten Morgen.“
Lindsey berührte seine Hand. „Vielen Dank, Michael.“
In Thors Körper spannte sich jeder Muskel.
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen“, entgegnete Harvey.
„Lieutenant?“ Ein hagerer Mann in Uniform näherte sich den beiden auf der Terrasse. „Verzeihen Sie die Störung, Sir. Aber der Chef wünscht Sie zu sprechen. Er meinte, es sei dringend.“
Harvey wandte sich an Lindsey. „Ich muss gehen.“
„Ich bleibe noch ein Weilchen, ich brauche frische Luft.“
Der Lieutenant drückte ihre Hand, verneigte sich und ließ sie allein. Sobald er verschwunden war, trat Thor aus seinem Versteck. Er war wütend, obwohl er kein Recht dazu hatte.
Lautlos schlich er sich an, bis er neben ihr stand. „Wie ich sehe, haben Sie Ihren Lieutenant gefunden.“
Erschrocken fuhr Lindsey herum. „Grundgütiger – Thor! Sie haben mich beinahe zu Tode erschreckt! Was, in aller Welt, tun Sie hier?“
„Ich beobachte Sie und Ihr anstößiges Benehmen. Sie scheinen sich in der Rolle des Flittchens richtig wohlzufühlen.“
Bevor er reagieren konnte, holte Lindsey aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige, die sie ebenso zu verblüffen schien wie ihn. Ihre schönen, goldfarbenen Augen füllten sich mit Tränen.
„Nur weil ich
Weitere Kostenlose Bücher