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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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so wie in den letzten Tagen und Wochen schon öfter. Je fester er an die Rolle glaubte, die Gott ihm zugedacht hatte, umso bereitwilliger akzeptierte oder begrüßte er sogar, dass man ihn ermorden oder hinrichten würde. Diese Akzeptanz brachte er in Momenten allgemeiner Euphorie zum Ausdruck, und hinterher schien sie ihn selbst zu überraschen und zu deprimieren.
    Als wir an diesem Abend nach Betanien zurückkehrten, spürte ich, dass seine Stimmung umschlug. Der Tag hatte mit freudiger Erregung begonnen, die sich weiter gesteigert hatte, als immer mehr Menschen ihn in die Stadt begleiteten. Nun aber machte er eine finstere Miene. Er war immer noch erregt, aber seine Freude war in Zorn umgeschlagen.
    Am Rande des Dorfes gaben wir den Esel seinem Besitzer zurück und legten den restlichen Weg über das Feld, auf dem immer noch Jesu Anhänger kampierten, zu Fuß zurück. Bis zum Passahfest wollten sie dort noch ein, zwei Nächte ausharren. Jesus ging voran und führte uns wie ein General durch sein Feldlager, der in Gedanken so sehr mit der morgigen Schlacht beschäftigt ist, dass er seine Fußsoldaten gar nicht wahrnimmt. Im Garten hinter Lazarus’ Haus stand ein Feigenbaum. Als Jesus ihn sah, sagte er, er sei hungrig, und es verlange ihn nach Früchten.
    Nun war aber Frühling, und weder Feigen noch andere Früchte waren reif. Ich nahm an, dass er erschöpft und verwirrt war. Er starrte in die Zweige und sah nichts als Blätter. Ich erwartete, dass ihm sein Irrtum gleich klar würde und er dann über sich selbst lachen könnte, aber weit gefehlt. Er schäumte vor Wut. Der Baum habe sich ihm verweigert. Er werde seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Jesus verfluchte ihn. Niemals möge er je wieder Früchte tragen, der Baum solle sterben.
    Ich sah die anderen Jünger an, die aber betreten ins Leere starrten. Keiner sagte etwas. Jesus setzte sich wieder in Bewegung, immer noch bebend vor Wut, und wir folgten ihm – ein unglückliches Häuflein am Ende eines Tages, der ein großer Triumph hätte sein sollen.
    Auch als wir das Haus betraten, hatte Jesus sich noch nicht wieder beruhigt. Martha hatte für uns alle gekocht und für Jesus etwas ganz Besonderes zubereitet, aber er aß kaum davon und dankte ihr nicht. Maria saß zu seinen Füßen und erwartete weise Worte, aber er schwieg und ignorierte sie. Lazarus erwähnte den Lobgesang der Kinder und schien ein Lob zu erwarten, vergeblich. Schließlich nahm ich ihn beiseite und sagte ihm, wie sehr wir seine Bemühungen, sowohl heute als auch schon vor unserer Ankunft, zu schätzen wüssten.
    Lazarus schenkte mir ein geisterhaftes Lächeln und sagte mit Grabesstimme: »Ich bin zufrieden, wenn der Meister zufrieden ist.« Er hatte etwas an sich, das einen wirklich glauben lassen konnte, er sei von den Toten auferstanden.
    Ich fragte mich ernstlich besorgt, wie wir Jesus helfen konnten. Ich hatte ihn in letzter Zeit genau beobachtet und glaubte zu wissen, dass er momentan nichts mehr brauchte und ersehnte als die Liebe und Anerkennung einer großen Menschenmenge. Einzelne Freunde bedeuteten ihm nichts. Er brauchte die Bestätigung von Massen, die Möglichkeit, sich seiner eigenen Fähigkeiten zu versichern, indem er sie öffentlich zur Schau stellte. Die Menschenmenge war zu seinem Spiegel geworden. Ich fürchtete, wenn ich ihm einen direkten Vorschlag machte, würde er ihn zurückweisen, also versuchte ich es mit der Gedankenübertragung, die wir als Kinder geübt hatten. Nach einer Weile sprang er tatsächlich auf und antwortete mir, als hätte ich etwas gesagt: Ich solle hinausgehen, Lampen auf das Feld stellen und die Menschen auffordern, sich zu versammeln.
    Dann wandte er sich an Maria Magdalena, wobei er fast über die andere Maria stolperte, ohne sie oder ihren erst bewundernden, dann gekränkten Blick zu bemerken. »Begleite Judas«, sagte er. »Hilf ihm, alles zu arrangieren. Es gibt Dinge, die gesagt werden müssen.«
    In dieser Nacht hielt er inmitten brennender, blakender Öllampen und einer Schar ebenso verzückter wie erschreckter Gläubiger eine ungewöhnlich feurige Predigt. Sie begann mit einer Schmähung der Priester und Schriftgelehrten, vor allem derjenigen, die zu den Pharisäern zählten. Sie seien Tore, Heuchler, Rechtsverdreher, Parasiten. Sie und ihresgleichen hätten den Mord an Israels Propheten zu verantworten. Sie seien eine Schlangenbrut, die dem Feuer der Hölle nicht entgehen werde. Der Tempel sei Gottes Haus auf Erden, doch beschmutzt

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