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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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andere glaubten nicht, aber allen war der nun berühmte Sohn Galiläas, der Wunder vollbringen konnte, willkommen.
    Als wir den Ölberg auf der von Zypressen gesäumten Straße umrundeten, den Hang mit dem Garten Gethsemane passierten und ins Kidrontal hinabstiegen, lag die Stadt, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, mit ihren massiven, blass orange- und rosafarbenen Mauern vor uns, halb Festung, halb Palast, mit Kuppeln und Türmen, Toren und Zinnen. Es war ein Moment des Triumphes, und noch heute durchfährt mich ein ehrfürchtiger Schauer, wenn ich daran denke. An diesem Tag schliefen meine Sorgen. Was spielte es für eine Rolle, ob er der Sohn Gottes oder der von Josef, dem Zimmermann, war? Er war Jesus von Nazareth, der ein neues Jerusalem verhieß, und die Menschen kamen, um ihn zu hören und zu sehen.
    An der Stadtmauer gaben wir den Esel am östlichen Tor bis zu unserer Rückkehr in die Obhut eines jungen Burschen und stiegen über eine Treppe in den Vorhof des Tempels, wo wir mit frostiger Höflichkeit von Hohepriestern und Schriftgelehrten begrüßt wurden. Sie behandelten uns respektvoller, als sie eigentlich wollten, um bloß keinen zu verprellen, dem die Menschen so viel Bewunderung entgegenbrachten. Dort wie überall war das Volk sehr mächtig, wenn es mit einer Stimme sprach. Es zu brüskieren war nicht ratsam, wenn man sich der Unterstützung Roms nicht sicher sein konnte, und da die Römer gegenüber innerjüdischen Querelen gleichgültig waren, konnten die Tempelherren nicht auf sie zählen.
    Jesus sprach wieder in Gleichnissen, und die Pharisäer hielten dagegen – eine Art Vorhutgefecht, um das Ausmaß ihrer Differenzen auszuloten. Als ein Hohepriester Jesus aufforderte, seine Anhänger zum Schweigen zu bringen, weil man in dem Lärm kaum dem theologischen Diskurs folgen könne, weigerte sich dieser. »Würden meine Freunde schweigen, begännen die Steine zu lärmen«, sagte er.
    Im selben Moment setzten Jubelrufe einer Gruppe von Kindern aus Betanien ein, die sich in Lazarus’ Obhut befanden und von diesem dazu aufgefordert wurden. »Jesus, Sohn Davids!«, skandierten sie. »Jesus, König der Juden!« Lazarus gab den Takt vor. »Jesus, Sohn Davids! Jesus, König der Juden!«
    Der Hohepriester war schockiert. Das war Blasphemie. Er beschwerte sich bei Jesus: »Hörst du denn nicht, was sie sagen?«
    Jesus lächelte. Doch, er höre sehr wohl. Aber habe der Hohepriester auch die alten Schriften gelesen, in denen es heiße, wahre Lobpreisungen kämen nur aus dem Munde von Säuglingen und Kindern?
    Die Leute in der Nähe, die Jesu Worte gehört hatten, drehten sich um und riefen sie denen zu, die weiter weg standen, was stürmischen Applaus auslöste.
    Der Hohepriester runzelte die Stirn und fragte: »Aber bist du denn, was diese Leute sagen? Behauptest du, jener zu sein?«
    Statt die Frage zu beantworten, stellte Jesus eine Gegenfrage: »Als mein ermordeter Cousin Johannes die Gläubigen im Jordan taufte, kam der Segen da von Gott?«
    Es war eine raffinierte Frage. Zu sagen, dass der Segen, den Johannes sprach, nicht von Gott kam, hätte die leicht erregbare Menge aufgebracht. Andererseits bedeutete eine Bestätigung, dass selbsternannte Propheten über Kräfte verfügten, die denen der Tempelpriester ebenbürtig, wenn nicht überlegen waren. Entsprechend ausweichend fiel die Antwort aus, denn der Hohepriester sagte: »Diese Frage kann nur der Herr beantworten.«
    »Dann kann auch nur der Herr beurteilen«, sagte Jesus, »in wessen Namen ich meine Botschaft an die Welt richte.«
    Der Hohepriester hätte gern weiter debattiert, aber Jesus wandte sich ab, hob die Stimme und sprach zu seinen Anhängern. Er erzählte von einem Grundbesitzer, der Wein anbaute und dann den Landarbeitern dessen Pflege überließ. Diese aber stahlen die Ernte. Als der Besitzer seine treuen Diener aussandte, um seinen Anteil des Erlöses einzufordern, wurden sie geschlagen und fortgejagt. Als der Besitzer dann seinen eigenen Sohn aussandte, um seinen Anteil einzufordern, wurde der Sohn ermordet.
    Wie so oft, wenn Jesus ein Gleichnis erzählte, blieb auch hier unklar, was genau er damit meinte. Langsam wurde jedoch klar, zumindest einigen von uns, dass der Landbesitzer Gott war, die räuberischen Landarbeiter waren die Priester und die treuen Diener Israels die Propheten. Wer aber war der ermordete Sohn? Es konnte kein anderer als Jesus selbst sein. Wieder einmal schien er seinen eigenen Tod vorauszusagen,

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