Mein Offizier und Gentleman
vorgingen, und Lucy war den ganzen Abend über nicht eine Minute ohne Gesellschaft.
Endlich wurde zum Dinner gebeten, und Jack Harcourt forderte sein Recht ein, mit ihr speisen zu dürfen. Er führte sie zu einem Tisch nahe der geöffneten Fenstertüren und entfernte sich mit dem Versprechen, in wenigen Minuten mit einem Teller voller Leckerbissen wieder bei ihr zu sein. Lucy spürte den kühlen Luftzug vom Garten her und beschloss, draußen im Freien einen Augenblick Luft zu schnappen. Doch kaum war sie auf die Terrasse hinausgetreten, sprach einer der jungen Herren, mit denen sie zuvor getanzt hatte, sie an.
„Miss Lucy, welch glückliche Fügung, Sie allein zu treffen.“
Lucy zuckte ein wenig zurück, da er ihr sehr nahe kam. „Oh, Mr. Lawrence, ich hatte Sie gar nicht bemerkt. Ich wollte mich nur ein wenig erfrischen und muss gleich wieder in den Saal. Lord Harcourt erwartet mich zum Essen.“
„Wer braucht Nahrung, wenn er den Nektar der Götter kosten darf?“, fragte er mit schwerer Zunge, sodass Lucy merkte, er müsse ein wenig angeheitert sein. „Allein Sie anzuschauen treibt mich in den Wahnsinn. Sie sind ein Engel … eine Göttin der Liebe …“
„Verzeihung, Sir, ich fürchte, Sie sind nicht ganz bei sich“, sagte Lucy, während sie versuchte, an ihm vorbeizukommen, doch er packte sie beim Arm und zog sie zu sich heran. Aufkeuchend mühte Lucy sich, von ihm loszukommen. „Lassen Sie mich gehen!“
„Erst wenn ich den süßen Honig deiner Lippen gekostet habe …“
„Nein! Sie sollen mich nicht küssen! Lassen Sie mich los! Ich will sofort zurück in den Saal!“
„Sie sollten gehorchen, Lawrence, sonst könnte es für Sie sehr ärgerlich werden“, sagte jemand hinter ihnen.
Die Drohung in Jack Harcourts Stimme war unverkennbar. Der dreiste junge Mann drehte sich zu ihm um und erbleichte. Hastig ließ er Lucy los und zog sich leicht schwankend in den Garten zurück.
„Vielleicht lehrt Sie das, auf einer solchen Veranstaltung nicht allein ins Freie zu gehen“, sagte Jack scharf. „Ich hätte gedacht, letztens auf jener kleinen Insel hätten Sie Ihre Lektion gelernt.“
„Natürlich war es dumm von mir hinauszugehen“, sagte Lucy und errötete. „Aber ich brauchte ein wenig frische Luft und dachte nicht, dass mir hier etwas geschehen könnte …“
Streng schaute Jack sie an. „Ein Mädchen mit Ihrem Aussehen, Miss Horne, muss immer mit lüsternen Männern rechnen. Merken Sie es sich, und vertrauen Sie nur denen, die Ihnen den nötigen Respekt entgegenbringen.“
„Ja, danke. Ich werde demnächst vorsichtiger sein.“ Lucy fühlte sich so beschämt, dass sie ihm nicht in die Augen blicken konnte. „Bitte entschuldigen Sie mich nun. Ich gehe besser ins … Ich muss mich ein wenig …“ Ohne noch ans Essen zu denken, eilte sie ins Haus. In seiner Gegenwart hätte sie in diesem Moment keinen Bissen hinuntergebracht.
Jack sah ihr bedauernd nach. Zornig wie er war, hatte er sie ungewollt mit seinen scharfen Worten in Verlegenheit gebracht, weil sie die Erinnerung an frühere Zeiten, an ein anderes törichtes Mädchen, geweckt hatte. Er hoffte nur, sie werde die gemeinsame Ausfahrt nicht absagen; auf jeden Fall musste er sie um Verzeihung bitten.
Lucy kehrte einige Minuten später in den Ballsaal zurück. Wie dumm von ihr, vor Lord Harcourt davonzulaufen! Kein Wunder, dass er sie für ein Kind hielt! Sie hätte nicht weichen dürfen, sondern sich verteidigen müssen. Der Fehler lag nicht bei ihr, sondern bei Mr. Lawrence, der betrunken war und sich möglicherweise jeder Dame genähert hätte. Sicher, es war unbedacht gewesen, allein hinauszugehen, doch sie war natürlich davon ausgegangen, auf einer so respektablen Veranstaltung nicht mit Übergriffen rechnen zu müssen. Lord Harcourt war unnötig barsch gewesen.
Als sie sich nach ihm umsah, konnte sie ihn nirgends entdecken. Er musste gegangen sein. Ob er sie wohl trotzdem, wie versprochen, morgen zu der Ausfahrt abholen würde? Doch, sagte sie sich, so unhö fl ich wäre kein Herr, nur wegen einer kleinen Unstimmigkeit eine Verabredung aufzukündigen. Letztendlich war sie ihm ja dankbar für seine Hilfe, und das würde sie ihm morgen sagen.
Dennoch hatte das Fest ein wenig von seinem Glanz eingebüßt, und so war sie nicht betrübt, als Marianne vorschlug, sie sollten heimfahren.
Zeitig am nächsten Morgen erwachte Lucy aus einem seltsamen Traum: Sie hatte mit einem Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, hoch
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