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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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war als alle Träume, die ich bis dahin gehegt hatte. Seine Realität war so verankert im Moment, im Leben selbst, dass sie jeden Traum in den Schatten stellte. Er lebte, ich träumte, und nach und nach lernte ich mit ihm, meine Träume entweder als einen Teil meines Jetzt zu begreifen oder sie fallenzulassen. Das einem Fremden zu erklären ist schwer, es meiner Familie zu erklären war unmöglich.
    Vielleicht hat er in dem knappen Jahr seines Schweigens, seines Trauerns um die Tragödie seiner Eltern, in seinem Autismus eingeschlossen, als sei eine gewisse Selbstbestrafung nötig, alles gelöscht, was nicht im Moment stattfand, vielleicht um damit alle Möglichkeiten eines Verlusts, einer Enttäuschung und eines zweiten Abschieds auszuschließen. Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass er sich ans Heute gehalten hat. Bis zu dem Tag, als er nach sieben Jahren beschloss, zurückzukommen.
    Zu mir und damit ins Gestern.
    Vielleicht war das das Beängstigende an der Situation, das, was mich so überforderte: dass ich einen anderen Ivo sah, einen, der auf einmal seine Vergangenheit suchte, der sein Heute aufgegeben hatte und sein Morgen von seinem Gestern abhängig machte.
    In jenem Sommer am Strand sah ich ihn in der Ferne weit draußen im Meer, und an dem Tag liefen alle Gestern, Heute und Morgen ins Jetzt zusammen. In dem winzigen Punkt im Meer, der sich immer weiter entfernte.
    Als er zurückschwamm, saß ich auf seinem Handtuch und wartete auf ihn mit zwei Äpfeln in der Hand, von unserem Apfelbaum, im Vorbeihuschen gepflückt. Er fror, und ich trocknete ihm den Rücken ab, während die Sonne sich ins Meer zurückzog. Er roch nach Salz, und seine nassen Haare fingen Sandkörner auf. Er war sehr groß, in jenem Sommer war er um einen Kopf größer geworden, und schaute mit einem kumpelhaften Lächeln auf mich herunter. Er hatte starke Knochen, nicht wie seine Mutter, die so zerbrechlich und fleischlos gewirkt hatte, er hatte immer etwas wahnsinnig Zähes an sich.
    Seine Rippen zeichneten sich unter seiner glatten Haut ab, und Wassertropfen schimmerten wie kleine Sternchen auf seinem Bauch. Ich saß da, traute mich nicht, ihn anzusehen, und schrubbte und schrubbte, bis er meine Hand ergriff, mich ansah und fragte, was denn auf einmal in mich gefahren sei.
    Wir waren allein, die kleine Bucht war unser stilles Geheimnis, hierher verirrten sich äußerst selten Touristen, da die Ecke als zum Baden ungeeignet galt, weil hier Fischerboote ankerten und der Holzsteg sich endlos ins Wasser erstreckte und das Wasser für zu kalt befunden wurde. Doch wir hatten uns den Ort angeeignet und uns an das raue und kühle Meer angepasst.
    Er hatte sich sein T-Shirt übergezogen und hatte aufgehört, mit den Zähnen zu klappern. Er war schön, so sonnendurchflutet und mit seinem finsteren Blick, mit den scharfen Zähnen, die eine Spur zu kantig waren, und den vollen Lippen und seinen dunklen Härchen im Gesicht, die er seit einem Jahr stolz herumtrug, rasierte und pflegte. Es war der Tag, an dem ich anfing, ihn zu begehren, und diese Begierde war etwas Schmerzvolles, Aufregendes und Beschämendes zugleich.
    Ich hielt den Kopf gesenkt und zog meine Knie an. Damals trug ich einen Pagenschnitt und hatte abgekaute Fingernägel; meine Zehen waren mit Tuljas Nagellack knallrot lackiert, und ich trug ein Sommerkleid aus Leinen mit einer roten Schleife um die Taille, das meine Mutter mir in einem Anfall von Romantik in einem Nobelgeschäft in New York gekauft hatte. Ich nannte das Kleid mein New Yorker Schickimicki-Teil und war heimlich stolz darauf, dass ich es bekommen hatte und nicht Leni.
    Er hob mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen.
    – Bist du verknallt, oder was?, sagte er in seinem typischen etwas gleichgültigen Ton. Ich schwieg. Da lachte er auf, und in dem Moment traf der letzte Sonnenstrahl seine Stirn, und er wirkte, über und über beleuchtet vom zärtlichen Sommerlicht, wie ein Heiliger. Seine Augen überzog der gewohnte Schleier, und ich wollte weinen. Ich verspürte eine solch tiefe Trauer, dass sie mich in einer Sekunde um Jahre altern ließ; vielleicht war ich so traurig, weil mir schlagartig klarwurde, dass die Liebe, die wir empfinden, niemals irgendeiner Kategorie zuzuordnen ist und damit für andere immer ein Geheimnis bleiben würde. Aber ich hasste Geheimnisse, ich hasse sie seit dem Tag, an dem Ivos Vater nach Hause kam …
    Vielleicht erkannte ich das alles, als ich vor Ivo saß und zum ersten Mal nicht imstande

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