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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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mit ihm zu tanzen. Ich lachte unaufhörlich, ohne selbst zu wissen worüber. Michi, von meinen überdeutlichen Avancen verunsichert, hatte nicht vor, mich auf der Stelle zu vögeln; er umarmte mich auf kumpelhafte Art und Weise und tätschelte meine Wangen. Irgendwann hatte ich mir genug Mut angetrunken und zerrte ihn auf die Männertoilette, wo ich mich auf den Klodeckel setzte, mein linkes Bein hochstellte und meinen Slip auszog. Und dafür hatte ich drei Wodkas und drei Bier gebraucht. Michi wesentlich weniger.
    Ich taumelte hinaus. Ich setzte mich auf den Bürgersteig und übergab mich. Ich blieb dort sitzen. Alles drehte sich, und meine Glieder fühlten sich taub an. Mein Mund war völlig trocken und mein Blick trüb. Ich fror. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe, bis er kam. Er war drinnen im Club gewesen. Ich hatte ihn nicht bemerkt, oder er war gekommen, während Michi und ich auf dem Klo waren. Er setzte sich zu mir, rauchte und starrte vor sich hin. Abrupt stand er auf, nahm mich an der Hand und schleppte mich zu seinem Motorrad. Er legte meine Arme um seine Taille und startete den Motor. Wir fuhren los, wurden immer schneller. Mir wurde schwindelig, die Lichter verwandelten sich zu einem Kaleidoskop. Er schrie irgendetwas, das ich aber wegen des Fahrtwindes nicht verstehen konnte.
    In einer Kurve, die zur Hauptstraße führte, die uns hätte nach Hause bringen sollen, rutschten wir weg. Am Straßenrand waren einige Büsche, in denen ich landete, was mir letztlich das Leben rettete. Ivos Nieren waren gequetscht. Er hatte komplizierte Brüche, eine schwere Gehirnerschütterung und innere Blutungen. Ich hatte nur leichte Schnittwunden und einen gebrochenen Arm.
    Ich komme mit, sagte ich Mark am Telefon und legte auf. Ich wusste, es war meine letzte Chance. Ich putzte mich heraus, ich schminkte mich, ich legte Marvin Gaye auf und tanzte dazu, während ich meinen halben Kleiderschrank auf dem Bett ausgebreitet hatte.
    Pünktlich holte mich Mark ab. Er sah sehr entspannt und gut aus in seinem schwarzen Jackett und mit seinen frisch geschnittenen Haaren. Ich berührte beim Einsteigen leicht sein Handgelenk. Er nickte und lächelte. Ich freute mich aufrichtig, ihn zu sehen und mit ihm wieder Ordnung in unserer Welt. Er brachte mich zu einem Club im Hafen. Es wimmelte dort von Fernsehmoderatoren, Journalisten, Produzenten, Regisseuren und Schauspielern. Die wenigsten kannte ich, aber alle schienen Mark zu kennen und Mark sie. Es gab Sushi, teures Fingerfood und ausgefallene Getränke. Jan, Marks Freund und langjähriger Kollege, war Erfinder einer äußerst erfolgreichen politischen, vor allem politisch korrekten Fernsehsendung.
    Ich trank einen Cocktail und hörte der Swing-Band zu, die auf der kleinen Bühne spielte. Reden wurden gehalten, bemüht witzig und pointiert, irgendwelche albernen Geschenke überreicht.
    Ich tanzte mit Mark und flüsterte ihm ins Ohr, wie sehr ich es bereuen würde. Dass ich ihm alles erklären würde.
    Später am Abend ging ich auf die Terrasse und sah auf den Hafen hinunter. Es war schön. Es war beruhigend. Der Anblick von Wasser gibt mir immer eine gewisse Sicherheit. Zwei mir unbekannte Frauen umzingelten mich und verwickelten mich in ein überflüssiges Gespräch. Aber auch da nahm ich mir vor, es tapfer durchzustehen, freundlich zu sein, nett zu wirken, interessiert – für uns, für Mark und mich. Für unsere gemeinsame Zukunft.
    Als ich aus dem Krankenhaus wieder in die Wohnung zurückkam, räumte ich als Erstes die paar Drogen weg, die es dort noch gab. Ich räumte alles Alte weg. Ich warf alte Klamotten weg. Ich warf alte Bücher weg. Ich warf meine alten Notizhefte weg. Ich besorgte mir eine neue Telefonnummer, damit keiner der alten Freunde mich erreichen konnte. Ich versuchte, den alten Teil von mir wegzuwerfen.
    Ich zwang mich, wieder zu schreiben. Ich verabredete mich mit Menschen. Ich besuchte Leni jedes Wochenende und spielte mit ihren Kindern. Ich ging mit Vater wieder in italienische Restaurants, die er so liebte.
    Ivo wohnte nach seiner Entlassung wieder in Niendorf bei Tulja. Er rief nicht an.
    Die Tage, an denen ich schrieb und erfolgreich die ersten Beiträge bei Zeitungen unterbrachte, und die Tage, an denen ich wie gelähmt war, nur im Bett lag und an die Decke starrte, wechselten sich in schneller Reihenfolge ab.
    Ich hatte eine Karte von ihm erhalten: »Ich muss eine Weile weg, sonst verliere ich mich. Ich habe Angst. Ich brauche dich so

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