Mein Sanfter Zwilling
und kein Auge zugemacht.
Eines Morgens stattete mir Tulja einen Besuch ab. Ohne etwas zu sagen, kam sie rein und setzte sich an den Tisch in der Küche. Sie begann die Tasche auszupacken. Obst und Gemüse und ihre Marmeladen, Fisch von ihrem Stammladen in Niendorf, Käse und Milch vom Bauernhof ihrer besten Freundin und selbstverständlich ihr Pflaumenlikör. Sie sprach nicht, sie bereitete das Essen zu. Ich starrte sie an, versuchte herauszufinden, warum sie gekommen war, und ließ es dann sein, weil ich ihre Sturheit allzu gut kannte.
– Ihr beide bereitet mir großen Kummer.
– Ist Ivo bei dir gewesen? Hat er sich beschwert?
– Nein. Hat er nicht. Er war nicht bei mir.
– Was willst du von mir, Tulja? Ich brauche keine Hilfe. Ich fühle mich gut.
– Gut? Sicher.
Ich stürzte mich auf das Essen. Den Fisch in der Sahnesauce und die Käsehäppchen, die sie mit den Tomaten so akkurat geschnitten hatte, und ich stellte fest, dass ich ausgehungert war, dass ich schon seit Tagen nichts mehr Richtiges gegessen hatte.
Tulja beobachtete mich zufrieden, und ich senkte den Blick auf den Fisch, als würde dort meine Rettung liegen.
Sie legte den Arm um meine Schulter, und ich versank weiter im Fisch in der Sahnesauce. Still war ich, und still sah der Fisch zu mir auf, und mir wurde klar, dass ich in einer erbärmlichen Lage war.
Tulja saß auf der Couch und beobachtete mich, wie ich das Essen verschlang.
– Tulja, warum, warum hast du nie Kinder gehabt?, fragte ich sie.
– Ich hab doch euch. Das ist schon genug, glaub mir, an Sorgen.
– Aber bevor es uns gab …
– Ich hatte viele Kinder, die ich habe im Leben adoptieren müssen: meine Schwester, meine Männer, meine Freunde. Sogar meine Mutter, als sie krank wurde.
– Aber Kinder bereiten doch auch Freude?
– Ich hatte genug Freude im Leben, glaub mir, mein Herz. Ihr müsst mit diesem Mist aufhören, Stella. Das geht nicht mehr lange gut. Ihr verhaltet euch naiv, indem ihr glaubt, an etwas andocken, etwas wiedergutmachen zu können, was ihr nicht gutmachen könnt. Ihr redet euch ein, ihr würdet euch lieben, um für eure Vergangenheit unbedingt ein glückliches Ende zu finden. Das ist illusorisch, ihr müsst in der Gegenwart ankommen, es bringt nichts, immer dieses Zurückschauen. Lasst es sein. Ihr raubt euch gegenseitig Möglichkeiten und Chancen auf euer eigenes Glück. Ihr müsst eure Wege gehen, das ist keine Liebe, das ist eine komische Strafe, die ihr euch auferlegt habt. Sei nicht kindisch, Stella!
Ivo kam nach Hause. Er hielt eine kleine Ledertasche in der Hand. Blieb mitten im Lauf stehen, als er uns beide sah.
– Tulja. Ich hätte es wissen müssen, ich habe es ja schon gerochen. Ich sterbe vor Hunger.
Sorgfältig begann er, den Kühlschrank und die Töpfe auszukundschaften. Bald hatte er seine Mahlzeit aufgewärmt und sich alles auf einen Teller getan. Er setzte sich hin und begann kommentarlos zu essen, dazwischen sah er immer wieder neugierig zu uns herüber.
Diese Frage, die ich mir all die Jahre nicht zu stellen gewagt hatte – war plötzlich mit einer physischen Vehemenz da, füllte den gesamten Raum, nahm uns in Beschlag und begann an unserer Welt zu rütteln. Denn wir beide kannten bereits die Antwort und hassten sie.
Da Ivo nicht davon abzubringen war, dass Tulja ihm in meinem Auftrag die Leviten lesen sollte, redete er nicht mehr mit mir. Er verschwand wieder für ein paar Tage, und ich fand in seinen Sachen einen Brief, in dem ich die Handschrift meiner Freundin Sarah erkannte, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
»Ich fand es wunderschön gestern … Und ich würde diese Nacht gerne wiederholen. Ich werde Mittwoch im Bombay vorbeikommen. Hoffe, du bist da. Sarah.«
Ich wusste, dass er mich betrog. Ich wusste, dass er mir niemals das geben würde, was ich mir von ihm wünschte, und das nicht, weil er es mir nicht hätte geben können, sondern weil er es sich nicht zugestand, auch nur einen einzigen Tag im Leben glücklich zu sein.
Ich zog mich an, schminkte mich, was ich seit langem nicht mehr getan hatte, und ging in den Club, den Sarah genannt und von dem ich noch nie gehört hatte.
Ich traf einen Kumpel von Ivo an und bat ihn um ein wenig Koks. Ich zog mir drei Linien hintereinander durch die Nase und ging auf die Tanzfläche. Dort traf ich auf Michi, den Schlagzeuger, einen sechsundzwanzigjährigen Alkoholiker, den ich von Ivos und meinen Nachttouren kannte. Ich hängte mich ihm an den Hals und begann
Weitere Kostenlose Bücher