Mein schwacher Wille geschehe
man aber auch, dass auf die strafende Instanz kein Verlass ist. Nichts bringt das kindliche Ordnungsschema stärker durcheinander als das Ausbleiben der Strafe. Nichts trägt stärker zur Ausbildung des Selbstbewusstseins bei als das Lernen aus den Verstößen gegen die übergeordneten Regeln. Jenseits des kafkaschen Laboratoriums, in dem die Straferwartung übermächtig ist, tun sich neue Handlungsoptionen auf. Und mit der Folgenlosigkeit des Verstoßes kann bereits das Kind die Wonnen der Unpünktlichkeit erfahren. Das vorsichtige Schleichen über den leeren Schulflur mag noch geprägt sein von der Angst, für seine Verspätung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Man muss durch die leere Passage, die kurz zuvor noch mit Stimmen und Rufen angefüllt war. In der Stille schlummert aber auch ein Geheimnis. Etwas ist anders. Zum ersten Mal hat man den Flur als nicht bevölkerten Ort erlebt. Der Raum ist größer und er klingt anders. Bald spricht man im Geiste zu sich selbst. Dreimal, viermal sagt man die Ausrede für die Verspätung vor sich hin. Ist sie gut ausgedacht? Wirkt sie plausibel? Gibt man sich selbst die Schuld oder anderen? Von der Akzeptanz der Ausrede hängt ab, ob der Lehrer einen schnell auf den Platz durchrutschen lässt, damit der Unterricht nicht weiter gestört wird. Ist die Ausrede leicht zu durchschauen, wächst die Gefahr, dass am verspäteten Schüler ein Exempel statuiert wird. Der zeitliche Verzug spielt plötzlich keine Rolle mehr, nun gilt es, die Verspätung als ungeheuerlichen Verstoß zu deklarieren.
Beim Huschen über den Flur steigen jedoch nicht nur Angstgefühle auf. Die Einsamkeit in den sonst belebten Gängen kann auch als Erlebnis entdeckt werden. Den Klang des Halls hat der Schüler so nie zuvor gehört. Bevor er sich den Folgen seiner Verspätung stellt, lauscht er noch einmal vorsichtig an der Tür. Wo sind sie gerade im Text? Wer spricht? Führt der Streber Thomas schon wieder das Wort? Wird der dösige Bert gerade wieder einmal |127| vorgeführt? Was sagt die schlaue Sabine? Auf den leeren Fluren wird der zu spät Gekommene zum Beobachter einer Szene, der er doch selbst angehört. Zuspätkommen schafft Distanz, es ermöglicht Selbstreflexion und trägt zur Ironiefähigkeit bei. »Pünktlichkeit ist eine Zier«, reimen Schüler mit sprachlicher und habitueller Provokationslust: »Doch weiter kommt man ohne ihr«. Der Reim in Kombination mit dem grammatikalischen Fehler karikiert die Schülerrolle und ist doch Ausdruck eines eben erst erwachten Rollenbewusstseins. Nach der Wahrnehmung des stillen Raums und der inneren Sammlung vor dem Betreten des Klassenzimmers wächst das Gespür für die Inszenierung des Moments. Es mag auch für künftige Schülergenerationen etwas Beklemmendes haben, sich und anderen die Verspätung einzugestehen. Noch in den rabaukenhaftesten Schuldesastern, die im urbanen Raum längst als Krise wahrgenommen werden, wird vor der Klasse Pünktlichkeit verhandelt. Wo alle Formen des Anstands bereits weitgehend preisgegeben sind, beansprucht der Lehrer zumindest ein gewisses Maß an Pünktlichkeit. Es ist ein zentraler Bestandteil sozialer Initiation, sich in ein neues Verhältnis zur Zeit zu setzen.
Etikette und Takt sind angesichts des wirkungsmächtigen Gebots eher schwache Begründungen für die Einhaltungspflicht zeitlicher Verabredungen. Zuspätkommen, das Entgleiten der Zeit, ist gesellschaftlich weitgehend geduldet. Es ist sogar bemerkenswert, wie über die Störung eines gesellschaftlichen Rituals, sei es in der Kirche, sei es zu einer Businesspräsentation, über den zu spät Kommenden hinweggesehen wird. Man rümpft die Nase, aber lässt sich nichts anmerken. Meist wird nicht einmal ein Wort darüber verloren. Der Zuspätkommer erfährt die demonstrative Toleranz einer Gemeinschaft, obwohl sie sich erkennbar gestört fühlt. Andererseits läuft die Klage über die Verspätung sogar Gefahr, als kleinlich und spießig abgetan zu werden. Wer zu spät kommt, kommt bisweilen in den Genuss, als jemand mit Lebensstil |128| angesehen zu werden, der sein Zeitmanagement souverän gegen die Interessen der anderen zu behaupten weiß. Das Gebot der Pünktlichkeit ist nicht aufgehoben, aber es kann gedehnt werden. Je kunstvoller dies geschieht, umso größer die Anerkennung. Wer zu spät kommt, mag Probleme mit dem Zeitmanagement haben. Er weiß diese jedoch in seinen Selbstentwurf einzuarbeiten.
Es gehört zweifellos zu den sozialen Distinktionsspielen,
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