Mein skandaloeser Viscount
verdrehte die Augen. „Mein Gott, soll ich dir eine Peitsche bringen, damit du dich noch mehr geißeln kannst? Du erhältst eine zweite Chance, um sie zu erobern. Ergreif sie !“ Grayson zog seinen Zylinder unter der Armbeuge hervor, wirbelte ihn herum und setzte ihn schräg auf den Kopf. „Wir sind seit elf Jahren befreundet, Remington, lange genug, um einen Mann zu kennen, meinst du nicht auch?“
Jonathan beäugte ihn argwöhnisch, welchen Überredungsversuch er noch parat hatte. „Worauf willst du hinaus?“
Grayson richtete den Blick zur verrußten Zimmerdecke, als flehte er die himmlischen Mächte an, ihm Nachsicht mit diesem Einfaltspinsel zu geben. „Erinnerst du dich an Eton? Mein Gott, wie schrecklich habe ich damals gelitten. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich steckte meine Nase ständig in Bücher, und meine Mitschüler fanden es angebracht, mir deshalb die Nase blutig zu schlagen. Erinnerst du dich?“
Jonathan musste schmunzeln in Erinnerung an die gemeinsame Schulzeit, als er Grayson ein ums andere Mal mit seinen Fäusten verteidigen musste, der sich nie zur Wehr setzte, sich lediglich mit den Armen über dem Kopf vor den Hieben seiner Kameraden zu schützen suchte. „Ja, damals haben wir viele Stühle zertrümmert.“
„Nein. Du hast sie zertrümmert. Wenn du nicht eingegriffen hättest, hätte man mich zum Krüppel geprügelt. Was ich damit sagen will: Schon damals hast du für andere gekämpft, aber nie für dich. Das ist zwar zweifellos ein nobler Wesenszug, mit dem du allerdings das Glück anderer stets über dein eigenes gestellt hast. Ich wünsche bei Gott, du würdest aufhören, dich für diese leidige Situation verantwortlich zu fühlen, in die du durch widrige Umstände geraten bist. Es ist vorbei. Du bist frei, und hätte deine marchesa nicht doch noch einen Funken Anstand besessen, wärst du jetzt nicht einmal in London. Nachdem du durch die Hölle gegangen bist und die Tage und Stunden gezählt hast, um Victoria wiederzugewinnen, willst du kurz vor dem Ziel aufgeben und die Flinte ins Korn werfen? Wegen zwei Konkurrenten? Der Jonathan, den ich einst kannte, hätte sich mit geballten Fäusten in den Kampf gestürzt.“
„Mit welchen Waffen sollte ich wohl kämpfen?“, knurrte Jonathan. „Ich stehe doch da wie ein armseliger Bettler, der sich mit zwei Prinzen messen will.“
Grayson seufzte enerviert. „Wie hoch ist eigentlich dein Vermögen? Hmm? Heraus mit der Sprache. Du hast nie darüber gesprochen.“
Jonathan blähte die Backen und stieß den Atem aus. Dieses Thema hätte er liebend gerne vermieden. Er besaß weniger als ein Viertel seines einstigen Vermögens. „Wenn ich alles von italienischen Lire in englische Pfund umrechne? Ungefähr dreihundert im Jahr. Damit könnte ich Victoria ein sorgenfreies Leben in Venedig bieten.“
„Dreihundert Pfund im Jahr?“ Grayson ließ einen langgezogenen Pfiff vernehmen, wiegte den Kopf bedächtig hin und her und wollte gar nicht mehr damit aufhören. „Mir kommen die Tränen. Damit bleibt dir keine andere Wahl, als in Venedig zu leben, aber …“ Grayson wies mit einem Finger auf ihn und lächelte träge, „… wenn Victoria dich heiratet, bis du alle finanziellen Sorgen los. Ihr könnt leben, wo es euch gefällt. Als ihr Gemahl erbst du beim Ableben meines Onkels dessen gesamtes Vermögen. An die hunderttausend Pfund.“
Jonathan verschluckte sich. „Gott, der Gerechte! Das ist eine erschreckend hohe Summe. Kein Mensch sollte so viel besitzen.“
Grayson musterte ihn eindringlich. „Mir ist klar, dass es dir nicht um Geld geht, Remington, aber betrachte es doch als weiteren Pluspunkt, um dessentwillen sich der Kampf lohnt, unabhängig von allem anderen, was du dir so heiß ersehnst.“
„Geld ist mir weiß Gott nicht wichtig. Ich habe mehr als genug, um davon leben zu können. Es ist nur …“ Jonathan trat einen Schritt näher und dämpfte verschwörerisch die Stimme. „Sei bitte ehrlich. Denkst du wirklich, Victoria könnte mir eine Chance gegen zwei andere Bewerber geben?“
Grayson lachte spöttisch. „Sobald meine Cousine erfährt, dass du einer der drei bist, bekommt sie vermutlich einen Tobsuchtsanfall und ohrfeigt dich links und rechts. Aber glaub mir: Sie wird an St. Paul’s Cathedral auf dich warten. Hast du eigentlich eine Ahnung davon, was ich ertragen musste, als du ihre Briefe nicht mehr beantwortet hast. Nein? Gestatte mir, eine Eigenkomposition zum Vortrag zu bringen mit dem Titel
Weitere Kostenlose Bücher