Mein skandaloeser Viscount
Himmel.
Er war es tatsächlich. Remington.
Kein anderer als der Mann, den sie einst geliebt hatte und dessen Ring sie noch immer trug. Der Mann, der keinen einzigen ihrer Briefe beantwortet hatte, aus unerfindlichen Gründen, vor deren Aufklärung sie sich stets geängstigt hatte.
Lord Moreland und der dritte Herr erhoben sich gleichfalls zu ihrer Begrüßung.
In ihrem Entsetzen konnte Victoria kaum atmen und trat einen Schritt um den anderen rückwärts, ohne den Blick von Remington zu wenden. Sie war kein Feigling, allerdings um nichts auf der Welt bereit, Dinge zur Sprache zu bringen, die längst der Vergangenheit angehörten.
Remington ging auf sie zu und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Er senkte das Kinn ein wenig, während sie immer hastiger zurückwich. Sein markantes Gesicht war schön wie eh und je, von der venezianischen Sonne tief gebräunt, seine hochgewachsene Gestalt hatte die Schlaksigkeit des Jünglings verloren und sich zum athletischen Wuchs eines Mannes entwickelt.
Grauen packte sie, als er näher kam. Sie wandte sich um, raffte die weiten Röcke und trat gehetzt die Flucht an. Im Korridor verlangsamte sie ihre Schritte und atmete tief durch.
Ihr wurde schwarz vor Augen, der Korridor begann sich zu drehen, sie suchte verzweifelt Halt an der Wand in der Befürchtung, ihren Mageninhalt von sich geben zu müssen. Langsam ließ der Drehschwindel nach, sie barg ihre erhitzte Wange an der kühlen Damasttapete.
Remington. Remington war einer der drei Bewerber. Irgendwie war es ihrem Vater gelungen, den Mann aufzutreiben, den sie für tot gehalten hatte.
Die untersetzte Gestalt ihres Onkels erschien auf der Schwelle. Seine schweren Stiefelschritte hallten durch den Korridor.
„Victoria?“ Er berührte den Ärmel ihres Kleids. Sein rundes Gesicht mit dem graumelierten Schnauzbart tauchte in ihrem Blickfeld auf. „Victoria, sieh mich an.“
Sie seufzte, drehte sich ihrem Onkel zu und lehnte den Rücken gegen die Wand.
Mit seinen braunen Augen blickte er ihr forschend ins Gesicht. „Brauchst du Stärkung? Riechsalz? Einen Schluck Wein?“
Victorias Wangen brannten wie Feuer, sie schüttelte schwach den Kopf, unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen. Allmählich konnte sie wieder ruhiger atmen, aber ihr Körper fühlte sich taub an … wie gelähmt.
Wieder hallten Schritte durch den Korridor und hielten inne. Sie erstarrte beim Anblick der hohen Gestalt neben ihrem Onkel. Frischer Geruch nach Minze wehte sie an.
Remington.
Sie betrachtete die Messingknöpfe seiner elfenbeinhellen, silberdurchwirkten Weste. Schließlich zwang sie sich, den Blick über die rubinrote Seidenkrawatte bis zu seinem geschwungenen Mund zu heben.
Und als ihr Blick seinen strahlend blauen Augen begegnete, die sie wie eh und je in ihren Bann zogen, wich ihr alles Blut aus dem Gesicht. Ohne die Wand im Rücken wäre sie besinnungslos zu Boden gesunken. Es war tatsächlich Remington. Nur älter geworden. Und wie erlesenem Wein waren ihm die Jahre gut bekommen.
Er blickte ihr forschend ins Gesicht. „Victoria. Ich … fühlen Sie sich nicht wohl?“ Seine tiefe melodische Stimme klang besorgt. Obgleich seine Redeweise nach wie vor den Briten erkennen ließ, glaubte sie eine fremdländische Färbung darin wahrzunehmen, als hätte Venedig nicht nur seine Gesichtsfarbe getönt, sondern auch seine Stimme.
All die Jahre hatte sie sich immer wieder ausgemalt, was sie sagen, was sie tun würde, sollte sie je Gelegenheit haben, ihn wiederzusehen. Sie hatte sich unzählige Varianten ausgedacht, wie sie ihn ohrfeigen, mit Fäusten bearbeiten, ihn anschreien und verfluchen würde, ihr so schreckliche Qualen und Sorgen bereitet zu haben, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Aber nun war sie zu nichts dergleichen fähig, konnte nur nach Luft ringen wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Er wandte sich an ihren Onkel. „Sir Thorbert. Muss das alles heute Abend stattfinden? Lady Victoria fühlt sich eindeutig unpässlich.“
Sie blinzelte, der frische Duft nach Minze umfing sie, der Remingtons Frack entströmte. Er roch nicht mehr nach Nelkenpfeffer. Er roch wie ein … Mann.
Sie schluckte und fuhr mit den behandschuhten Fingern über die Damasttapete. Gottlob trug sie ihr schönstes Kleid, das gab ihr eine gewisse Genugtuung. Er sollte sein Leben lang bitter bereuen, sie so tief verletzt zu haben.
Ihr Onkel schlug Remington seufzend auf die Schulter. „Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, aber das Protokoll duldet keinen
Weitere Kostenlose Bücher