Mein Sommer nebenan (German Edition)
sogar dafür gelobt, wie toll ich irgendwelche Flyer sortiert habe. Noch nie hat jemand so viel von mir gehalten. Nicht einmal, wenn ich allen auf Teufel komm raus etwas vorgemacht habe. Was ich in dem Fall gar nicht tue. Ich bin wirklich richtig gut in dem Scheiß, den ich für sie mache. Außerdem bin ich auf die Empfehlung angewiesen.« Seine Stimme steigt um ein paar Oktaven. »›Deine Arbeit im Baumarkt – schön und gut, Timothy. Aber das Einzige, wodurch du deinen verkorksten Lebenslauf wirklich wieder in Ordnung bringen kannst, ist das Praktikum im Wahlkampfbüro und das Empfehlungsschreiben, das dir die Senatorin ausstellen wird.‹«
»Deine Mom?«, frage ich.
»Wer sonst? Im Moment gibt es nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der etwas Positives über mich sagen kann, und das ist ausgerechnet Clay Tucker – das Arschloch, das gerade dabei ist, die Karriere eines anständigen und aufrichtigen Menschen zu zerstören.«
Plötzlich kommt Kundschaft in den Laden. Eine gestresst aussehende Frau mit ihrer Tochter, die Farbtonkarten kaufen. Eine ältere Dame, die nach einem handlichen Laubgebläse sucht. Und ein verhuschter bärtiger Typ, der Tim nur extrem vage erklären kann, wonach er sucht: »So ein Ding wie im Fernsehen, mit dem man Sachen reparieren kann.« Nachdem Tim ihm fünf Minuten lang diverse Artikel gezeigt hat, die sich für Reparaturarbeiten eignen – von Spachtelmasse bis zu Schweizer Taschenmessern –, findet Jase schließlich heraus, dass er einen Werkzeugkoffer meint. Der Typ trottet sichtlich zufrieden davon.
»Und was willst du jetzt tun?«, frage ich, als wir wieder allein sind.
»Frag mich was Leichteres, verdammte Scheiße.« Tim greift in die Brusttasche seines Hemds, wo seine Zigaretten stecken, und lässt die Hand dann wieder sinken. Im Laden herrscht striktes Rauchverbot. Er schließt gequält die Augen und sieht aus, als würde ihm gerade jemand einen Nagel in die Schläfe treiben. Als er sie wieder aufmacht, schlägt er so heftig mit der Faust auf die Theke, dass er einen Plastikbecher mit Stiften zum Hüpfen bringt. »Ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, die Brocken hinzuwerfen. Ich habe schon so viel in den Sand gesetzt. Wenn ich das jetzt auch noch vermassle, dann …« Er beugt sich über die Kassentheke und presst sich die Handballen auf die Augen. Weint er etwa?
»Du könntest mit ihm reden und ihm sagen, dass du seine Methoden für fragwürdig hältst«, schlägt Jase vor.
»Als ob ihn das interessieren würde. Gott, was ist das bloß für eine Scheiße. Da weiß ich endlich mal, was das Richtige wäre und bin zu feige, es zu tun. Das ist doch zum Kotzen. Aber wahrscheinlich ist das jetzt die Retourkutsche für all den Mist, den ich in meinem Leben schon gebaut habe. Ich meine, wenn ihr wüsstet, wie oft ich schon gegen sämtliche Regeln des Anstands verstoßen und Leute beschissen habe.«
»Oh Mann, hör endlich auf rumzuheulen. Ich kann dieses selbstmitleidige Gejammer darüber, was du schon so alles durchgemacht hast im Leben, langsam nicht mehr hören«, fährt Jase ihn plötzlich an. »Du hast keine Neugeborenen umgebracht und ihr Blut getrunken, sondern bloß in der Schule verkackt. Also bleib auf dem Teppich und reiß dich gefälligst zusammen, verflucht noch mal.«
Tims Augenbrauen schießen fast bis zu seinem Haaransatz in die Höhe. Weder Tim noch ich haben je miterlebt, dass Jase die Beherrschung verliert.
»Es geht hier nicht um die größte moralische Verfehlung des Jahrhunderts.« Jase fährt sich durch die Haare. »Oder darum, ob du bei der Entwicklung der Atombombe mitmachst. Es geht darum, ob du dich in Zukunft anständig verhältst oder weiter Scheiße baust. Also entscheide dich. Aber hör endlich mit diesem Gejammer auf.«
Tim nickt knapp und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Kasse, als wären die Zahlen und Symbole darauf das Faszinierendste, was er jemals gesehen hat. Mir ist aufgefallen, dass seine Mimik in letzter Zeit viel offener und ausdrucksstärker war als sonst, aber jetzt setzt er wieder die undurchdringliche Maske auf, an die ich so gewöhnt war, dass ich fast geglaubt hatte, sie wäre sein wahres Gesicht. »Wenn mich jemand sucht, ich bin im Lager, Inventur machen«, murmelt er und geht den Flur hinunter.
Jase sortiert weiter Nägel. Ihr Klirren ist das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht.
»Das eben hat sich überhaupt nicht nach dir angehört«, sage ich schließlich leise.
Jase wirkt verlegen.
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