Mein Sommer nebenan (German Edition)
strahlender oder reifer oder so. Aber mir ist bloß aufgefallen, dass meine Lippen vom Küssen geschwollen sind. Und Jase sieht auch aus wie immer.
»Das war die beste Nachhilfe, die ich je hatte«, sage ich schließlich lächelnd.
»Ich habe bis gestern auch nicht gewusst, dass Lernen so schön sein kann.« Er wendet den Blick ab, als wäre er verlegen, und beugt sich über einen weiteren Karton, um ihn zu öffnen. »Obwohl ich mir mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen habe, weil ich gerade ein Schild angebracht habe, als ich mich vorhin daran zurückerinnert hab.«
»Auf den hier?« Ich greife nach einer seiner Hände und küsse seinen Daumen.
»Es war der linke.« Jase lächelt, als ich die andere Hand nehme.
»Ich habe mir auch mal das Schlüsselbein gebrochen«, sagt er, zeigt auf die Stelle und wartet, bis ich sie geküsst habe. »Und während eines Trainingsspiels in der Neunten habe ich mir außerdem ein paar Rippen angeknackst.«
So verwegen, sein Shirt bis zu der Stelle hochzuziehen, auf die er diesmal zeigt, bin ich nicht. Aber ich küsse sie durch den weichen Stoff hindurch.
»Geht es wieder?«
Sein Blick funkelt übermütig. »In der Achten habe ich mich mal mit einem Typen geprügelt, der Duff schikaniert hat, und der hat mir ein blaues Auge verpasst.«
Mein Mund wandert zu seinem rechten Auge, dann zu seinem linken. Er schlingt die Arme um meinen Nacken, zieht mich an sich und flüstert: »Ich glaube, ich hatte damals auch einen Riss in der Lippe.«
Als wir uns küssen, ist alles um uns herum plötzlich wie ausgeblendet. Selbst wenn Mr Garrett herauskommen, ein Laster mit einer neuen Lieferung vorfahren oder eine Flotte außerirdischer Raumschiffe den Himmel verdunkeln würde – ich glaube nicht, dass ich irgendetwas davon mitbekäme.
Wir stehen an die Tür gelehnt da, bis irgendwann tatsächlich ein riesiger Laster vorfährt und Jase noch mehr Kartons abzuladen hat. Es ist erst halb zwölf, und weil ich erst um drei bei den Garretts sein muss und noch keine Lust habe, jetzt schon zu gehen, beschäftige ich mich mit so unnützen Dingen, wie die Farbkarten in der Malerabteilung neu zu ordnen, dem Klick-Klick-Klick von Mr Garretts Kugelschreiber zu lauschen und mit vor Glück fast zerspringendem Herzen alles, was gestern Nacht passiert ist, in Gedanken noch einmal und noch einmal zu erleben.
Als ich Duff später dabei helfe, für die Abschlussausstellung in seinem Sommerkurs für angehende Naturwissenschaftler aus recyclebaren Materialien ein »artgerechtes Zoogehege für in der Arktis lebende Tiere« zu bauen, fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Und die Aufgabe hat es in sich, nicht nur weil George und Harry ständig die Zuckerwürfel essen, die wir als Baumaterial benutzen, sondern auch, weil Duff unglaublich pingelig mit der Definition des Terminus »recyclebar« ist.
»Ich bin mir nicht sicher, ob man Zucker zu den recyclebaren Stoffen zählen kann. Aber Pfeifenreiniger gehören definitiv nicht dazu!«, sagt er und wirft mir einen finsteren Blick zu, während ich Eierkartons weiß anpinsle und sie in Eisberge verwandle, die in unserem arktischen Ozean aus Alufolie schwimmen werden.
Plötzlich fliegt die Küchentür auf und Andy stürmt in Tränen aufgelöst an uns vorbei und läuft die Treppe hoch.
»Die blöden Würfel lassen sich einfach nicht zusammenkleben. Sie fangen immer an sich aufzulösen, wenn ich den Kleber draufmache«, beschwert Duff sich und wirft frustriert den Pinsel hin, mit dem er gerade versucht hat, Klebstoff aufzutragen.
»Und wenn wir es mal mit klarem Nagellack probieren?«, sage ich.
»Der wird sie auch auflösen«, prophezeit Duff düster.
»Nur mal probieren«, sage ich.
George, der knirschend Zucker kaut, schlägt vor, die Wände stattdessen aus Marshmallows zu bauen. »Ich kann langsam keine Zuckerwürfel mehr sehen.«
Duff verliert endgültig die Fassung. »Oh Mann, George. Ich baue das doch nicht als Snack für dich. Außerdem sehen Marshmallows überhaupt nicht wie Glasbausteine in einer Mauer aus. Und ich muss das richtig gut hinkriegen, weil ich dann nämlich eine Urkunde bekomme und wir nächsten Monat nur die Hälfte für den Sommerkurs bezahlen müssen.«
»Dann fragen wir eben Dad«, meint Harry. »Vielleicht klappt’s ja mit Schellack oder so?«
Von oben dringt lautes Schluchzen zu uns herunter.
»Ich glaube, ich sollte mal kurz nach ihr sehen«, sage ich zu den Jungs. »Ruf deinen Vater an, Duff – oder Jase –, und frag,
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