Mein Sommer nebenan (German Edition)
Sammy, bevor wir noch deiner Ma oder Clay in die Arme laufen. Die beiden sind angeblich schon auf dem Weg hierher. Auf der Seite der moralisch Überlegenen zu stehen, ist neu für mich, also nicht, dass ich es mir in letzter Sekunde noch mal anders überlege.«
Als wir draußen sind, wirft Tim den Karton mit seinen Sachen und den Rucksack auf die Rückbank des Jetta, dann klappt er den Beifahrersitz wieder nach vorne, damit ich einsteigen kann.
»Wie gefährlich ist Clay?«, frage ich leise. »Ich meine, ist er wirklich so ein korruptes Schwein?«
»Ich habe nach ihm gegoogelt«, antwortet Tim. »Er hat einen unglaublich beeindruckenden Lebenslauf für einen Typen, der gerade mal sechsunddreißig ist.«
Sechsunddreißig? Mom ist sechsundvierzig. Er ist also tatsächlich um einiges jünger. Was ihn natürlich nicht automatisch zu einem schlechten Menschen macht. Mom hängt an seinen Lippen, als wäre er ihr persönlicher Guru, aber auch das heißt nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Nur … was hat es mit dieser Doppelagentin auf sich? Schließlich ist das hier lediglich ein kleiner Wahlkampf in Connecticut und nicht der Kalte Krieg.
»Was glaubst du, wie er es geschafft hat, so schnell Karriere zu machen?«, frage ich Tim. »Und er ist wirklich erst sechsunddreißig? Wenn er tatsächlich so ein leuchtender Stern am Firmament der Republikaner ist, warum engagiert er sich dann so für einen relativ unwichtigen Senatorenwahlkampf? Da gibt es doch für ihn so gut wie nichts zu holen.«
»Ich weiß es nicht, Sammy. Aber eines steht fest – Politik ist seine absolute Leidenschaft. Neulich lief ein Spot für irgendeinen republikanischen Kandidaten in Rhode Island, danach hat Clay sofort bei denen im Büro angerufen und ihnen erklärt, was sie an ihrem Slogan verbessern müssen. Vielleicht ist das mit deiner Ma ja wirklich seine Vorstellung von Urlaub … ich meine, für sie als Berater zu arbeiten.« Er wirft mir einen Blick von der Seite zu und grinst anzüglich. »Ein Urlaub mit gewissen Vergünstigungen.«
»Bekommt er die denn nur von meiner Mutter? Oder auch von der Brünetten, von der du erzählt hast?«
Tim lehnt sich im Sitz zurück, setzt den Blinker und drückt den Zigarettenanzünder rein. »Ich weiß nicht, was da genau abläuft. Er flirtet mit ihr, aber so sind die Südstaatler nun mal. Das muss nicht unbedingt was heißen. Er steht jedenfalls total auf deine Ma, das ist nicht zu übersehen.«
Bei dem Gedanken, er könnte mit dieser Marcy eine Affäre haben, wird mir leicht übel.
Tim seufzt. »Aber das ist zum Glück nicht mehr mein Problem.«
»Es löst sich aber nicht in Luft auf, nur weil es nicht mehr dein Problem ist.«
»Ja, Frau Oberlehrerin. Trotzdem. Für Clay geht Politik über alles. Ihn interessiert nur, wie er am schnellsten ans Ziel kommt und was er dafür tun muss. Ob andere dabei auf der Strecke bleiben, ist ihm egal. Und sein Lebenslauf beweist, dass es funktioniert. Warum sollte er seine Taktik ändern? In meiner kurzen und schillernden Karriere in der Welt der Politik habe ich eine Sache gelernt: Der Zweck heiligt die Mittel. Du darfst dich nur nicht erwischen lassen. Politiker sind im Grunde wie Alkoholiker, die ihre Sucht leugnen.«
Siebenunddreißigstes Kapitel
A n dem Tag, an dem der Übungstest stattfindet, fahren Nan und ich mit dem Fahrrad zur Stony Bay High. Mittlerweile ist August. Die Hitze flirrt über dem Asphalt, untermalt vom trägen Zirpen der Zikaden. Aber als wir durch die Doppeltüren in das Schulgebäude treten, ist es, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Die Luft in den Fluren ist stickig, es riecht schwach nach Bleistiftspänen und Desinfektionsreiniger, übertüncht vom Geruch von zu blumigen Parfums, Sportdeo und zu vielen Körpern auf zu engem Raum.
Die Stony Bay Highschool ist eines dieser niedrigen, endlosen Nullachtfünfzehn-Backsteingebäude mit hässlichen grünen Vorhängen vor den Fenstern, abblätterndem grauem Lack an den Türen und sich an den Rändern aufrollenden Linoleumböden. Es liegen Welten zwischen ihr und der Hodges Academy, die mit ihren bezinnten Mauern, Buntglasfenstern und Fallgittern wie eine Ritterburg aufragt. Das Gebäude hat sogar eine Zugbrücke. Klar. Man muss schließlich vorbereitet sein, falls die Privatschule irgendwann von den Angelsachsen angegriffen wird.
Ob staatlich oder privat – jede Schule hat denselben typischen Geruch, den einzuatmen mir heute jedoch völlig absurd erscheint, während ich auf
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