Mein Sommer nebenan (German Edition)
»Na los, fahr schon«, wiederholt er.
Sie setzt den Wagen zurück, würgt dabei jedoch den Motor ab.
»Grace. Reiß dich zusammen.« Der Motor heult auf, dann bricht der Wagen nach links aus. »Bring uns einfach nach Hause.«
»Mom?«
»Alles in Ordnung, Schatz. Schlaf weiter. Ich bin bloß auf eine Bodenwelle aufgefahren. Schlaf weiter«, ruft Mom zu mir nach hinten.
Vielleicht sagt sie noch etwas, aber ich bin so unglaublich müde, dass ich tatsächlich wieder einnicke. Als Tracy und ich jünger waren, ist Mom manchmal in den Winterferien mit dem Auto mit uns nach Florida gefahren, statt zu fliegen. Sie fand es aufregend, kurze Zwischenstopps in New York, Washington und Atlanta einzulegen und unterwegs in kleinen Bed & Breakfasts zu übernachten und Antiquitätengeschäfte zu durchstöbern. Mir hat das immer viel zu lange gedauert. Ich wollte endlich ans Meer zu den Delfinen und habe deswegen versucht, jede Minute, die wir im Auto verbrachten, zu schlafen. So ist es jetzt auch wieder. Ich sinke in einen tiefen Schlaf und bekomme kaum die Augen auf, als Mom mich kurz darauf so heftig am Arm rüttelt, dass es fast wehtut, und sagt: »Samantha. Aussteigen. Wir sind zu Hause.« Als ich mich ein paar Minuten später auf mein Bett fallen lasse, zu erschöpft, um mein Kleid auszuziehen oder unter die Decke zu kriechen, versinke ich sofort wieder in einem weichen, schwarzen Nichts.
Ich werde vom hartnäckigen Vibrationston meines Handys wach, das ich wie immer unter mein Kissen geschoben habe. Im Halbschlaf taste ich danach und brauche einen Moment, bis ich es endlich gefunden habe.
»Sam?« Jase’ Stimme klingt heiser, fast nicht wiederzuerkennen. »Sam!«
»Hmm?«
»Samantha!«
Er schreit es beinahe. Ich halte das Handy vom Ohr weg.
»Was? Jase?«
»Sam. Ich … wir brauchen deine Hilfe. Kannst du rüberkommen?«
Ich krieche übers Bett, schaue mit verschwommenen Blick auf die Digitaluhr.
1:16 Uhr.
Was?
»Jetzt?«
»Jetzt gleich. Bitte beeil dich.«
Noch immer ein bisschen benommen, stehe ich auf, ziehe mein Kleid aus, schlüpfe in Shorts, ein T-Shirt und Flipflops, steige aus dem Fenster und klettere das Spalier hinunter. Als ich unten stehe, werfe ich einen hastigen Blick zum Haus zurück, aber die Lichter im Schlafzimmer meiner Mutter sind aus, und laufe dann durch den feinen Nieselregen zu den Garretts rüber.
Sämtliche Lichter – überall im Haus, auf der Veranda, im Garten – brennen. Dieser Anblick ist zu nachtschlafender Zeit so ungewöhnlich, dass ich stolpernd in der Einfahrt stehen bleibe und plötzlich hellwach bin.
»Samantha?«, ruft Andy aus der Küche. »Bist du das? Jase hat gesagt, du würdest kommen.«
Ihre Silhouette taucht in der Tür auf, umringt von mehreren kleineren Schatten. Duff, Harry, George, Patsy auf Andys Arm. Zu dieser Stunde? Was ist passiert?
»Daddy.« Andy kämpft mit denen Tränen. »Es ist etwas mit Daddy passiert. Mom hat einen Anruf bekommen. Sie ist mit Alice ins Krankenhaus gefahren.« Sie drückt Patsy an sich und schluchzt. »Jase ist auch schon dort. Er hat gesagt, dass du kommst und dich um uns kümmerst.«
»Okay. In Ordnung, lass uns reingehen«, sage ich so ruhig wie möglich und streiche ihr eine zerzauste Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie atmet ein paarmal tief ein und aus, offensichtlich darum bemüht, sich zusammenzureißen. Die Kleinen schauen uns mit großen Augen verwirrt an. Der versteinerte Ausdruck auf Georges Gesicht ist kaum auszuhalten. All seine Befürchtungen, all die Sorgen, die er sich ständig gemacht hat … aber das hier muss alle Horrorszenarien übersteigen, die er sich jemals vorgestellt hat.
Neununddreißigstes Kapitel
D ie Kinder blinzeln in das grelle Küchenlicht, wirken müde und verwirrt. Ich überlege fieberhaft, was Mrs Garrett wohl tun würde, um sie zu beruhigen, aber das Einzige, was mir einfällt, ist, Popcorn zu machen. Also mache ich Popcorn. Und koche ihnen heiße Schokolade, obwohl die Nachtluft trotz des Regens immer noch so drückend ist wie eine elektrische Heizdecke. George setzt sich neben mich auf die Arbeitsplatte, als ich Kakaopulver in die Milch rüh re. »Mommy tut den Kakao immer zuerst rein und schüttet dann erst ein bisschen Milch dazu und dann immer mehr«, sagt er ein bisschen vorwurfsvoll und sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an.
Das ist zweifellos eine gute Idee, denke ich, während ich versuche, die Klümpchen, die sich gebildet haben, mit dem Löffel am Topfrand zu zerdrücken.
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