Mein Sommer nebenan (German Edition)
Mom macht ihre heiße Schokolade mit irgendwelchen raffinierten Schokoraspeln aus einem Feinkostladen in San Francisco. Die schmelzen leichter.
»Wir haben keine Sahne«, sagt Harry niedergeschlagen, während er den Kühlschrank wieder schließt. »Heiße Schokolade ohne Schlagsahne ist doof.«
»Nicht, wenn man Marshmallows reintut«, sagt George.
»Titi?«, ruft Patsy traurig von Andys Arm und schaut sich suchend um.
»Was, wenn Daddy tot ist und sie es uns nicht sagen?«, fragt Andy. George fängt an zu weinen. Als ich ihn auf den Arm nehme, kuschelt er den Kopf auf meine Schulter und seine warmen Tränen purzeln auf meine nackte Haut. Mir schießt die Erinnerung an Nan durch den Kopf – wie sie sich vor gar nicht allzu langer Zeit genauso vertrauensvoll an mich geschmiegt und geweint hat, und wie sie ihre Schutzschilde jetzt wieder komplett hochgefahren hat –, bin mit meinen Gedanken dann aber sofort wieder bei Mr Garrett. Er ist doch so kräftig und sportlich, was um Himmels willen kann passiert sein? Ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, eine geplatzte Ader in seinem Kopf …
»Er ist nicht tot«, sagt Duff laut. »Wenn man tot ist, kommt die Polizei. Das hab ich im Fernsehen gesehen.«
Harry läuft zur Haustür und reißt sie auf. »Keine Polizei«, ruft er. »Aber, oh … hallo, Tim.«
»Hi, Kleiner.« Tim kommt in die Küche, seine Haare und seine Jacke sind vom Regen durchnässt. »Jase hat mich angerufen, Samantha. Du fährst ins Krankenhaus, ich bleibe hier.« Er wirft mir die Schlüssel seines Wagens zu. »Na los, worauf wartest du?«
»Ich kann nicht fahren.«
»Shit … ähm … Okay.« Er dreht sich zu Andy um. »Ich bringe Samantha schnell ins Krankenhaus, dann komme ich wieder und helfe dir … aber nicht beim Windelnwechseln.« Er deutet warnend mit dem Zeigefinger auf Patsy. »Wag es bloß nicht, Kacka zu machen, hörst du?«
»Kaaackaaa«, flüstert Patsy kleinlaut.
Unterwegs hält Tim an einer Tankstelle, um Zigaretten zu kaufen.
»Wir haben keine Zeit für so was«, fahre ich ihn an, als er umständlich in seinen Taschen nach Geld kramt. »Außerdem kriegst du davon Lungenkrebs.«
»Hast du einen Zehner?«, fragt er. »Meine Lungen sind im Moment unser kleinstes Problem.«
Ich drücke ihm ein paar Dollarscheine in die Hand. Nachdem er die Zigaretten gekauft hat, setzen wir unseren Weg ins Krankenhaus fort.
Mrs Garrett und Alice sind nirgends zu sehen. Dafür sitzt Jase vornübergebeugt in einem der hässlichen orangefarbenen Plastikschalensitze im Wartebereich und hat den Kopf in den Händen vergraben. Tim gibt mir einen unnötig harten Schubs in seine Richtung und geht wieder.
Jase rührt sich nicht, als ich mich neben ihn setze. Entweder bemerkt er nichts von dem, was um ihn herum vor sich geht, oder es ist ihm egal, dass jemand neben ihm sitzt.
Ich lege meine Hand auf seinen Rücken.
Er hebt ruckartig den Kopf und sieht mich an. Sein Gesicht ist tränenüberströmt.
Dann lässt er sich gegen mich sinken und ich schlinge die Arme um ihn. So sitzen wir eine ganze Weile schweigend da.
Irgendwann steht Jase auf, geht zum Trinkbrunnen, spritzt sich Wasser ins Gesicht, kommt zurück und legt mir seine kalten, nassen Hände auf die Wangen. Wir haben immer noch kein Wort gewechselt.
Eine Tür knallt. Alice.
Sie sieht Jase an. »Kopfverletzung«, sagt sie ernst. »Er ist immer noch bewusstlos. Vielleicht ein Subduralhämatom. Sie können noch nicht sagen, wie schlimm es ist. Er hat ziemlich viele Prellungen, eine Beckenfraktur und mehrere gebrochene Rippen, aber was den Ärzten vor allem Sorgen macht, ist der Kopf.«
»Verdammt, verdammt«, murmelt Jase. »Alice …«
»Ich weiß«, sagt sie. »Ich kapier es einfach nicht. Was hat er so spätnachts noch auf der Uferstraße zu suchen gehabt? Da draußen finden keine AA-Treffen statt. Ich wüsste jedenfalls nicht wo.«
Uferstraße.
Uferstraße.
Es ist, als würde sich ein zäher Nebel lichten. Ich sehe, wie Mom aus Westfield nach Hause fährt und die weniger befahrene Route entlang des Flusses nimmt. McGuire Park. Am Fluss entlang. Uferstraße.
»Ich muss wieder rein«, sagt Alice. »Sobald ich mehr weiß, gebe ich euch Bescheid.«
Ich sitze zum ersten Mal im Wartesaal eines Krankenhauses. Es kommen und gehen Menschen, die entweder schrecklich krank aussehen, oder so ruhig und gleichgültig wirken, als würden sie auf einen Bus warten, dessen Zielort sie nicht wirklich interessiert. Der kleine Zeiger an der Wanduhr bewegt
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