Mein Sommer nebenan (German Edition)
Patriotismus.
Dazu muss man wissen, dass der Unabhängigkeitstag in Stony Bay der Feiertag schlechthin ist. Zu Beginn des Unabhängigkeitskriegs fackelten die Briten auf ihrem Weg zu bedeutenderen Angriffszielen ein paar Schiffe in unserem Hafen ab, sodass Stony Bay den Vierten Juli als seinen ureigensten Gedenktag ansieht. Die Parade startet traditionell auf dem Friedhof, verläuft den Hügel hinauf zur Baptistenkirche, wo Veteranen einen Kranz auf dem Grab des unbekannten Soldaten niederlegen, windet sich den Hügel anschließend wieder hinunter, zieht dann die von Bäumen gesäumte Main Street entlang, vorbei an den vorschriftsgemäß in Weiß, Gelb und Ziegelsteinrot gestrichenen Häusern, die sich so ordentlich aneinanderreihen wie die Farbquadrate in einem Aquarellmalkasten, und endet schließlich am Hafen. Sämtliche Schulkapellen der Stadt laufen mit und spielen Märsche, und Mom hält seit ihrer Wahl die Eröffnungs- und die Abschlussrede. Der Jahrgangsbeste der Middle School rezitiert die Präambel der Verfassung und ein weiterer herausragender Schüler liest einen selbst verfassten Aufsatz zum Thema Leben, Freiheit und Streben nach Gerechtigkeit vor.
Dieses Jahr ist Nan die Auserwählte.
»Ich fasse es einfach nicht. Das ist unglaublich«, sagt sie immer und immer wieder. »Ich meine, letztes Jahr war es Daniel und jetzt ich. Ich hätte niemals gedacht, dass mein Aufsatz über ›Die vier Freiheiten‹ von Roosevelt ausgesucht werden würde! Den, den ich in Englisch über Huckleberry Finns und Holden Caulfields Rebellion gegen das Leben geschrieben habe, fand ich irgendwie viel besser.«
»Okay, aber das Thema passt nicht unbedingt zum Vierten Juli«, entgegne ich. Um ehrlich zu sein, bin ich selbst überrascht. Nan schreibt eigentlich nicht besonders gerne Aufsätze. Sie hat schon immer lieber Theorien von anderen Leuten auswendig gelernt, als eigene aufzustellen. Aber das ist nicht das einzig Seltsame, das an diesem Tag passiert.
Mom, Clay, Nan und ich sind im Wohnzimmer, wo Mom bis eben mit Nan für ihren Auftritt geübt hat, während Clay noch einmal Moms Rede durchgeht, um ihr »den letzten Schliff«, wie er es nennt, zu verleihen.
Er liegt mit gezücktem Marker auf dem Boden vor dem Kamin und hat Unmengen von Presseausschnitten und Notizen vor sich ausgebreitet. »In dem Manuskript tauchen mir immer noch zu viele Floskeln aus deiner Standardwahlkampfrede auf, Gracie. Scheint der Fluch des ›Gemeinwohls‹ zu sein.« Er schaut auf und zwinkert erst Mom zu, dann Nan und mir. »Dieses Jahr brauchen wir ein Feuerwerk.«
»Das haben wir«, sagt Mom. »Es wird wie jedes Jahr von Donati’s Dry Goods gestiftet.«
Clay lächelt geduldig. »Grace, Honey. Ich spreche von einem Feuerwerk im übertragenen Sinn.« Er klopft mit den Fingerknöcheln auf die Presseausschnitte. »Das hier reicht für gewöhnliche Lokalpolitiker. Aber du bist besser. Und Darling – wenn du dieses Jahr gewinnen willst, dann musst du das auch sein.«
Moms Wangen färben sich rosa. Sie kniet sich neben ihn, legt ihm eine Hand auf die Schulter und beugt sich über die Stellen, die er markiert hat. »Okay, dann sag mir, wie.« Sie greift nach einem Block und einem Kugelschreiber und sieht ihn abwartend an.
»Krass«, sagt Nan, als wir später auf unsere Räder steigen, um zu ihr zu fahren. »Dieser Clay scheint deine Mom fest im Griff zu haben.«
»In letzter Zeit geht das nur noch so«, stöhne ich. »Ich verstehe selbst nicht so ganz, was da zwischen den beiden abläuft. Ich meine, ich habe das Gefühl, dass sie ihn wirklich mag, aber …«
»Meinst du, es liegt daran«, Nan senkt die Stimme, »… dass er so gut im Bett ist?«
»Großer Gott, Nan. Ich hab keine Ahnung. Und das ist mir in dem Fall auch lieber so.«
»Entweder ist es das oder er hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen«, murmelt Nan, wechselt dann aber zu meiner Erleichterung das Thema. »Okay, was soll ich anziehen? Vielleicht irgendwas in Rot, Weiß und Blau?« Sie schert vom Gehweg auf die Straße aus, damit wir nebeneinander fahren können. »Nein, das ist zu übertrieben. Was Blaues? Ganz in Weiß? Oder ist das zu jungfräulich?« Sie verdreht die Augen. »Nicht dass es für mich nicht komplett angemessen wäre. Was meinst du, soll ich Daniel bitten, ob er mich filmt, während ich meinen Aufsatz vorlese – ich könnte einen Link zum Video meiner College-Bewerbung beilegen? Oder würde ich mich damit bloß lächerlich machen?«
Sie stellt mir weiter
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