Mein Sommer nebenan (German Edition)
Fragen über Fragen, auf die ich keine Antworten habe, weil ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin. Was ist mit meiner Mutter los? Wann hat sie angefangen, einem anderen Menschen mehr zu vertrauen als sich selbst?
Tracy kommt übers Wochenende nach Hause. Sie ist froh darüber, weil es auf Martha’s Vineyard während der Feiertage, wie sie sagt, »nur so von Touristen wimmelt«. Ich spare mir die Frage, was sie selbst von den anderen Touristen unterscheidet, nachdem sie gerade mal seit ein paar Wochen auf der Insel als Kellnerin arbeitet. Tracy ist, wie sie ist.
Flip ist auch mitgekommen. Er hat Trace ein Armband mit einem winzigen goldenen Tennisschläger geschenkt und jetzt wedelt sie ständig angeberisch mit der Hand herum. »Auf der Karte, die er dazugelegt hat, stand Ich lebe, um dir zu dienen« , flüstert sie mir an dem Abend zu, an dem sie nach Hause kommt. »Unglaublich, oder?«
Für mich klingt es wie einer der Sprüche auf den T-Shirts, die Nan im Souvenirshop des B&T verkauft, aber die Augen meiner Schwester glänzen.
»Hast du nicht mal gesagt, dass Fernbeziehungen nicht funktionieren?«, frage ich.
»Das Semester beginnt erst im September«, lacht Tracy. »Mein Gott, Samantha. Bis dahin sind es noch Monate .« Sie tätschelt meine Schulter. »Wenn du schon mal richtig verliebt gewesen wärst, wüsstest du, wovon ich rede.«
Fast bin ich versucht, zu sagen: »Tja, also weißt du, Tracy, genau genommen …«
Aber ich bin daran gewöhnt, den Mund zu halten, mich auf die Rolle des Publikums zu beschränken und Mom und Tracy den Platz im Scheinwerferlicht zu überlassen. Also höre ich einfach nur zu, als sie mir vom Inselleben erzählt, dem Hafenfest und der Sonnwendfeier, und von dem, was Flip gemacht und gesagt und was sie daraufhin gemacht und gesagt hat.
Als sich am Vierten Juli um acht Uhr morgens die Schulorchester versammeln, zeigt das Thermometer schon fast dreißig Grad und der Himmel hat diese verwaschene blau-graue Farbe, die ankündigt, dass es noch schwüler werden wird. Trotzdem sieht Mom in ihrem weißen Leinenanzug, zu dem sie einen großen blauen Strohhut mit einem roten Band trägt, bewundernswert frisch aus. Tracy trägt – wenn auch extrem widerwillig – ein dunkelblaues Sommerkleid mit einer weißen Schärpe, ich ein gesmoktes weißes Seidenkleid, das Mom liebt, und in dem ich mir vorkomme, als wäre ich zehn. Höchstens.
Ich stehe gerade mit Mom und Tracy in der Nähe des sich allmählich formierenden Festzugs, als ich unter den Mitgliedern eines der Schulorchester Duff und Andy entdecke. Duff fummelt an seiner Tuba herum und ist von der Hitze schon ganz rot im Gesicht und Andy zieht mit zusammengekniffenen Augen eine Saite an ihrer Geige straff. Als sie sich das Instrument auf die Schulter legt und aufschaut, bemerkt sie mich und lächelt mich mit blitzender Zahnklammer strahlend an.
Garretts Baumarkt ist heute geschlossen, aber Jase und Mr Garrett haben vor dem Geschäft einen kleinen Stand aufgebaut, an dem sie Fähnchen, Wimpel und Luftschlangen verkaufen. Harry steht wie ein Marktschreier neben ihnen und bietet Vorbeischlendernden Limonade an: »Hey, Sie! Mister! Sie sehen durstig aus. Ein Becher für nur fünfundzwanzig Cents! Hey, Lady! Ja, genau Sie …« Mrs Garrett ist nirgends zu sehen, wahrscheinlich schiebt sie sich gerade mit George und Patsy durch die Menschenmenge. Mir wird zum ersten Mal bewusst, dass wirklich jeder Bürger unserer Stadt an der Parade teilnimmt.
Das erste Lied, das die Orchester anstimmen, ist »America is Beautiful«. Das stimmt zumindest, denke ich, auch wenn die Darbietung eher schief als schön klingt.
Als Mom ans Rednerpult tritt, setzt Trommelwirbel ein. Tracy und ich sitzen zusammen mit Nan und Marissa Levy, der Jahrgangsbesten der Middle School, hinter ihr auf der Tribüne. Und jetzt entdecke ich endlich auch Mrs Garrett, die mit Patsy und George etwas abseits steht und gerade damit beschäftigt ist, immer wieder kleine Fetzen von einer riesigen Zuckerwatte für George zu zupfen und Patsy in Schach zu halten, die ständig danach greifen will. Die Masons haben einen Platz in der ersten Reihe ergattert. Mr Mason hat den Arm um seine Frau gelegt und neben ihnen steht Tim in einem … Smoking! Ich weiß, dass Mrs Mason ihn gebeten hat, sich dem Anlass entsprechend ausnahmsweise mal »schick zu machen«. Typisch Tim, dass er es sich nicht verkneifen konnte, die Aufforderung ein bisschen zu wörtlich zu nehmen. Er muss in dem Ding
Weitere Kostenlose Bücher