Mein Sommer nebenan (German Edition)
vor Hitze umkommen.
Schließlich hält Mom die Eröffnungsrede. Wie nicht anders zu erwarten, strotzt sie nur so vor Lokalpatriotismus – sie schwärmt davon, zu welcher erfolgreichen und prächtigen Stadt sich Stony Bay in den letzten zweihundertunddreißig Jahren entwickelt hat, dass jeder Bürger seinen Teil dazu beigetragen hat und wie stolz wir auf unsere Geschichte sein können. Ich kann zwar nicht feststellen, inwiefern sich diese Rede so sehr von der aus dem letzten Jahr unterscheidet, sehe aber, wie Clay nickend und lächelnd in der Nähe der Kameras von NewsCenter9 steht und immer wieder einen prüfenden Blick zu den Pressefotografen rüberwirft, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch ja genügend Bilder schießen.
Nachdem Mom sich gesetzt hat, wird es einen Moment lang still, und Nan tritt ans Rednerpult. Wie so vieles in ihrer Zwillings- DNA sind auch die für die Größe verantwortlichen Gene ungleich verteilt. Nanny ist bei ungefähr ein Meter fünfundsechzig stehen geblieben, während Tim schon seit Jahren über ein Meter achtzig groß ist. Sie muss sich auf einen Schemel stellen, um über das Pult schauen zu können. Sichtlich nervös legt sie ihre Unterlagen ab, streicht die Blätter glatt und räuspert sich mehrmals. Ihre Sommersprossen heben sich lebhaft von ihrer hellen Haut ab.
Als ich gerade beginne, mir Sorgen zu machen, weil sie nichts sagt, begegnet ihr Blick meinem, sie schließt kurz die Augen und fängt an. »Der heutige Tag ist ein ganz besonderer in der Geschichte unserer Stadt. Wir feiern all das, was unsere Vorfahren sich für uns erträumt und erhofft haben. Viele dieser Träume und Hoffnungen sind in Erfüllung gegangen. Und weil wir in unserem Land die Freiheit über alles schätzen, möchte ich heute die vier Freiheiten von Roosevelt feiern – die Freiheit der Rede, die Freiheit des Glaubens, die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht. Die ersten beiden, die Meinungs- und Religionsfreiheit, sind mittlerweile fester Bestandteil unserer Verfassung. Aber wie sieht es mit den beiden anderen aus? Der Freiheit von Not und Furcht? Ist es an einem Tag wie heute nicht ebenso wichtig, uns an das zu erinnern, was wir noch nicht erreicht haben? Wofür es sich weiterhin zu kämpfen lohnt?«
Das Mikrofon scheint nicht richtig eingestellt zu sein, sodass immer wieder störende Rückkopplungsgeräusche ertönen. Mom hat den Kopf zur Seite geneigt und lauscht hoch konzentriert, als hätte sie Nans Rede nicht schon ein halbes Dutzend Mal gehört. Tracy und Flip stoßen sich ständig mit den Füßen an und halten Händchen, aber ihre Mienen sind feierlich und ernst. Ich schaue zu den Masons hinüber. Nans Mutter hat andächtig die Hände unter dem Kinn gefaltet, ihr Vater guckt starr geradeaus und Tim hält den Kopf gesenkt und presst sich die Fäuste auf die Augen.
Als Nan fertig ist, bekommt sie tosenden Applaus. Sie wird genauso rot wie ihre Haare, macht einen kleinen Knicks und läuft dann strahlend zu ihren Eltern.
»Ist das nicht ein wunderbarer Auftakt gewesen?«, ruft Mom, nachdem sie wieder ihren Platz am Rednerpult eingenommen hat. »Der Vierte Juli ist ein Tag, an dem wir die wahr gewordenen Träume unserer Vorväter feiern. Sie legten den Grundstein dafür, dass …«
Die Rede geht im selben Tenor weiter. Clay steht mittlerweile in einer der hinteren Reihen, sieht Mom lächelnd an und reckt den Daumen in die Höhe. Ich unterdrücke ein Gähnen, lasse den Blick zu Nan wandern, die gerade von ihren Eltern umarmt wird, und halte dann nach Tim Ausschau, der jedoch verschwunden ist.
Schließlich wird der Kranz am Grab des unbekannten Soldaten niedergelegt und die Parade zieht langsam den Hügel hinunter Richtung Hafen, wo Winnie Teixeira aus der Grundschule den Zapfenstreich spielt. Anschließend wird gemeinsam der Treueschwur gesprochen, dann ist der formelle Teil des Vierten Juli beendet und alles strömt zu den Getränke- und Essensständen, die vor dem Ladengeschäft von Doane’s Dry Goods aufgebaut sind.
Ich sehe mich vergeblich nach Nan um, die mit ihren Eltern irgendwo inmitten der Menge steht. Tracy ruft mir über die Schulter etwas zu und winkt, während sie sich eilig mit Flip aus dem Staub macht. Mom ist von einem Schwarm Menschen umringt, schüttelt Hände, signiert Flyer und küsst Babys. Dabei weiß ich, dass sie nicht besonders viel für Babys übrig hat, obwohl man das niemals vermuten würde, wenn man die entzückten Ausrufe hört, die sie beim Anblick
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