Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
›Die Wahrscheinlichkeit meiner Verhaftung liegt jetzt bei 90 Prozent, aber nicht bei 100 Prozent. Hundertprozentig ist sie erst, wenn sie sanktioniert wird von …‹ Wie hat er ihn noch genannt? Ich komme einfach nicht drauf. Jeder nennt Putin anders. Leute aus Petersburg sagen ›der Direktor‹, Geschäftsleute, die der Staatsmacht nahestehen, nennen ihn den ›Vorgesetzten‹ … Jedenfalls meinte er, sanktioniert von Putin. Ich glaube, er ging davon aus, Putin würde es ihm persönlich sagen: Hau ab oder wir verhaften dich. Mir wurde damals berichtet, er hätte versucht, sich nach Platons Verhaftung im Juli 2003 mit Putin zu treffen. Er hatte Nikolai Patruschew, den Direktor des FSB, um Hilfe gebeten. Patruschew war damals ziemlich neutral. Patruschew schlug ihm vor, sich mit Generalstaatsanwalt Ustinow zu treffen, aber Chodorkowski lehnte ab. Ustinow hatte schließlich angeboten, sich für 280 Millionen Dollar ›zu einigen‹. Chodorkowski aber wollte sich nicht ›einigen‹. Die letzte Station auf seiner bevorstehenden Reise sollte, so hatte er gesagt, die Region der Ewenken sein, wo er anstelle von Wassili Schachnowski (einem Gesellschafter der Menatep-Gruppe und einem der Yukos-Chefs, der als Abgeordneter die Region Ewenken im Föderationsrat vertrat) hinfliegen wollte.
    Am 25. Oktober um fünf Uhr morgens rief mich Chodorkowskis Leibwächter an. Er berichtete von der Verhaftung. Ich rief Wladimir Dubow an, einen der Aktionäre der Menatep-Gruppe und damals Duma-Abgeordneter. Um 10.30 Uhr wurde ich dann von Chodorkowskis Mobiltelefon aus angeklingelt. Er war schon in Moskau … Ich kam in die Staatsanwaltschaft. Chodorkowski saß betont entspannt da. Ihm gegenüber saß Ermittler Radmir Chatymow (der später aus irgendeinem Grund entlassen oder gezwungen wurde, ›auf eigenen Wunsch‹ zu kündigen), und sie sprachen über Gott und die Welt. Chodorkowski rauchte eine nach der anderen …«
    Ich habe Chodorkowski niemals rauchen sehen. Seine Freunde sagen, dass er manchmal, wenn er etwas trank, bei jemandem eine Zigarette schnorrte. Und er trank nur, wenn er am selben Tag nicht mehr arbeiten wollte. Einen doppelten Whisky etwa. Mit Genuss. Aber selten, wie es scheint. Seine Nachbarn in Jablonewy Sad, einer Siedlung in Shukowka, wo die Gesellschafter des Unternehmens wohnten, berichten, er hätte ständig gearbeitet. Wenn man sich abends draußen die Füße vertreten oder den Hund ausführen wollte und Chodorkowski begegnete, merkte man an dessen zurückhaltendem »Guten Abend«, dass ihm irgendein Gedanke durch den Kopf ging, von dem er sich nicht durch ein höfliches Gespräch ablenken lassen wollte. In seinem Arbeitszimmer brannte bis spät abends Licht. Er arbeitete entweder, oder er las.
    Das letzte Mal war Chodorkowski am 19. Oktober zu Hause. Wäre er damals spazierengegangen, hätte er gerade einmal zwei Geschäftspartner treffen können, die noch in Freiheit und nicht ausgereist waren: Wassili Schachnowski und Wladimir Dubow. In diesen letzten Monaten vor der Verhaftung war Jablonewy Sad merklich leerer geworden.
    Chodorkowskis Reise durch das Land begann am 20. Oktober 2003: Lipezk, Woronesh, Belgorod, Tambow, Saratow, Nishni Nowgorod … Zwei Wochen plante er unterwegs zu sein. Bei seinen Gesprächen und Vorlesungen sollte es eigentlich nur um Wirtschaftsfragen gehen, doch ein aufmerksamer Student oder Unternehmer oder einfach ein Zuhörer oder Fernsehzuschauer, der Chodorkowskis Ausführungen bis zum Schluss verfolgte, konnte darin nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Strategie ausmachen, die Chodorkowski im Interesse der weiteren Entwicklung des Landes vorschlug. Nach seiner Argumentation brauchte Russland drei Dinge, um voranzukommen: 1. eine gleichbleibend hohe Zahl erstklassig ausgebildeter Menschen, also Bildung, 2. die richtigen Bedingungen, damit diese Menschen in Russland effektiv arbeiten konnten, also die Integration des Landes in die Weltwirtschaft, und 3. ein Umfeld, in dem diese Menschen gern leben wollten, also die Entwicklung der Zivilgesellschaft im Land.
    Was tat Chodorkowski aus Sicht des Kreml? Er absolvierte eine Wahlkampfreise. Ganz gemäß der Theorie von einer Verschwörung der Oligarchen, die der Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski, auf Bestellung von Putins Silowikioder aus eigener Veranlassung, in einem im Mai 2003 veröffentlichen Bericht ausführlich dargelegt hatte. Seiner Theorie zufolge hatten die Oligarchen vor, mit ihrem

Weitere Kostenlose Bücher