Mein wildes Herz
hatte.
Vielleicht war sie diejenige, die sich täuschte, und ihr Schicksal lag nicht in England, sondern hier auf dieser Insel, bei Leif.
25. KAPITEL
Es war später Nachmittag, und der Wind fegte an diesem kühlen Herbsttag gelbe und orangefarbene Blätter durch die Londoner Straßen. Im eleganten Stadtteil Mayfair fuhr Coralees Kutsche vor Kristas zweistöckigem, aus Backstein erbautem Palais vor. Ein Diener öffnete den Wagenschlag.
„Wir sind angekommen, Miss.“
„Ja, danke.“ Sie ergriff die behandschuhte Hand des Dieners und ließ sich von ihm aus der Kutsche helfen. Dann folgte er ihr über den gepflasterten Gehweg zum Eingangsportal. Er klopfte ein Mal mit dem Türklopfer, der einen Löwenkopf darstellte, dann noch einmal, und die verzierte Holztür öffnete sich.
Butler Giles erkannte Coralee sofort, und ein Lächeln erhellte sein faltiges Gesicht. „Miss Whitmore. Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen. Bitte, kommen Sie herein.“
„Ich hoffte, Professor Hart sprechen zu können. Ist er vielleicht anwesend?“
Der Butler zog die buschigen Silberbrauen zusammen. „Er ist zu Hause, Miss. Seit Miss Krista verschwand, hat er das Haus kaum verlassen.“
„Das habe ich befürchtet. Wo ist er?“
„In seinem Arbeitszimmer, Miss. Ich werde ihn wissen lassen, dass Sie hier sind.“ Der Butler ging den Gang hinunter, wie immer in tadellos aufrechter Haltung, und Coralee folgte ihm. Giles verkündete ihre Ankunft, und als der Professor sie hereinbat, betrat sie den holzgetäfelten Raum mit seinen vielen Büchern.
Sie hatte erwartet, Kristas Vater wie immer hinter seinem Schreibtisch bei der Arbeit anzutreffen, und war deshalb erstaunt, ihn stattdessen in einem Sessel vor dem Fenster vorzufinden. Eine wollene Decke über den Knien, starrte er nach draußen. Als er sich zu ihr umwandte, bemerkte sie sein blasses, hageres Gesicht und ihr wurde bewusst, wie sehr er sich seit ihrem letzten Besuch in sich selbst zurückgezogen hatte. Coralee nahm sich vor, ihn in Zukunft öfter zu besuchen.
Mit einem gespielt fröhlichen Lächeln trat sie auf ihn zu. „Professor Hart, es ist so schön, Sie zu sehen!“ Er wollte sich erheben, doch sie winkte ab. „Bemühen Sie sich nicht. Ich schaue nur für einen Augenblick vorbei.“
„Ich freue mich darüber. Warum setzen Sie sich nicht, und ich lasse Tee servieren.“
„Ich fürchte, so viel Zeit habe ich nicht.“ Trotzdem nahm sie ihm gegenüber in einem Sessel Platz. Seine zusammengesunkenen, schmalen Schultern und die Blässe seines Gesichts machten ihr Sorgen.
„Ich hatte vor, in die Redaktion zu kommen, doch in letzter Zeit habe ich mich nicht sehr wohlgefühlt.“
Nein, er war nicht mehr er selbst, seitdem er Leifs Nachricht gefunden hatte, in der dieser ihm mitteilte, er habe Krista mit auf seine Insel im Nordmeer genommen.
Corrie ergriff die Hand des älteren Mannes. „Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen um sie, Professor. Aber wenigstens wissen Sie, wo sie ist.“
„Tu ich das? Ich habe keine Ahnung, wo Draugr sein könnte, noch weiß es der Rest der Welt.“
„Leif hätte sie nicht mitgenommen, wenn sie ihm nicht lieb und teuer wäre. In dem Brief steht, dass er sie heiraten will. Er wird für ihre Sicherheit sorgen.“
Der Professor blickte zur Seite, doch Corrie hatte noch sehen können, dass ihm die Tränen in den Augen standen. „Es ist alles mein Fehler. Ich hätte wissen müssen, was geschieht. Immerhin ist der Mann Wikinger. Seit Jahrhunderten rauben sie Frauen. Als er darauf gedrängt hat, Krista zu heiraten, hätte ich wissen müssen …“
„Wie hätten Sie es denn wissen sollen? Sie lehnte seinen Antrag ab, und Leif schien es zu akzeptieren. Vielleicht hat sich in dieser letzten Nacht etwas geändert. Vielleicht ging Krista freiwillig mit.“
Der Professor schüttelte den Kopf. „Das würde sie nie tun, ganz gleich, wie sehr sie ihn mag. Ihr Leben ist hier in London. Für sie ist es unmöglich, auf solch primitive Art zu leben und dabei glücklich zu werden. Sie wusste es, auch wenn Leif es nicht wahrhaben wollte.“
Corrie stand auf und ging zum Fenster. Welke Blätter bildeten einen dicken gelben, orange-roten Teppich auf dem Kiesweg, der sich durch den Garten zog.
„Leif ist ein guter Mann, Professor“, sagte sie. „Sonst hätte Krista sich nicht in ihn verliebt.“
„Gesagt hat sie nie etwas, aber ich habe es kommen sehen und hätte etwas unternehmen müssen. Ich hätte sie nicht so viel Zeit miteinander
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