Mein Wille geschehe
eingetroffen
war. Es handelte sich um die üblichen Rechnun-
gen, Kreditkartenwerbungen und Kataloge, doch
zuunterst fand er einen Umschlag mit dem ele-
ganten Briefkopf der Kanzlei Cotter, Boland und
Grace. Überrascht starrte Jessup darauf. Er hatte seine Rechnung für September bereits eingereicht
und bezahlt bekommen. Normalerweise erhielt er
keine Briefe der Kanzlei. Er öffnete den Um-
schlag, der einen getippten Brief enthielt. »Hier-544
mit möchten wir Sie davon in Kenntnis setzen«,
stand da, »dass wir Ihre Dienste im Fall Latham
von jetzt an nicht mehr benötigen. Falls noch
Zahlungen ausstehen, reichen Sie bitte so bald
wie möglich Ihre Rechnungen ein, damit wir Ih-
nen die Beträge erstatten können.
Wir danken Ihnen für Ihre hervorragende Mitar-
beit in dieser Angelegenheit und freuen uns auf
die weitere Zusammenarbeit.«
Paul Cotter selbst hatte den Brief unterzeichnet.
Jessup war wenig erfreut darüber, mitten in ei-
nem Prozess ohne Vorwarnung plötzlich abser-
viert zu werden. Vor allem jetzt, als es ihm gera-de gelungen war, einen neuen Blickwinkel zu er-
arbeiten. Er legte den Brief auf seinen Tisch,
blickte darauf und rieb sich das Kinn. Es war ihm rätselhaft, warum Dana nichts davon gesagt hatte.
Die Verteidigung beendete ihre Vernehmung von
Ronald Stern am späten Nachmittag.
»Professor Stern, konnten Sie sich anhand Ihrer
Forschungsarbeit über die psychologische Struk-
tur von Terroristen, der Zeit, die Sie mit meinem Mandanten verbracht haben, und der Arbeit an
Ihren Täterprofilen eine Meinung bilden, inwiefern bei meinem Mandanten eine Prädisposition zum
Terrorismus vorliegt?«
»Meiner Ansicht nach ist dies nicht der Fall«,
antwortete Stern.
»Ich danke Ihnen, Sir.«
545
Einige Geschworene atmeten hörbar aus, und
Dana ließ sich nieder. Sie war äußerst zufrieden
mit dem Verlauf der Vernehmung. Mit Paul Cotter
hatte sie endlose Diskussionen darüber geführt,
ob es sinnvoll war, Geschworenen aus Seattle
einen Professor aus Harvard als Zeugen vorzu-
setzen. Doch Stern war es gelungen, komplizier-
teste psychologische Theorien so verständlich
und locker zu erläutern, als säße er mit den An-
wesenden bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch.
»Ich verstehe nicht, was Sie für ein Problem ha-
ben«, hatte sie zu dem Geschäftsführer gesagt.
»Wir brauchen den Besten auf diesem Gebiet,
und das ist Stern. Außerdem kostet er uns keinen
Pfennig.«
Sie hatte den Sieg davongetragen und fühlte sich
nun, als sie die Reaktion der Geschworenen beo-
bachtete, absolut bestätigt.
Auch Brian entging nicht, wie der Professor auf
die Geschworenen wirkte. Stern war ein ein-
drucksvoller Zeuge. Seine Arbeit war herausra-
gend, seine Vorgeschichte imposant, und seine
Behinderung verlieh ihm zusätzliche Glaubwür-
digkeit. Er entsprach genau dem, was man einen
»sympathischen Zeugen« nannte, und der
Staatsanwalt wusste, dass er seinem Ziel nur
schaden würde, wenn er einen solchen Mann bru-
tal ins Kreuzverhör nahm.
»Professor Stern«, sagte er liebenswürdig, »kön-
nen Sie auf Grund Ihrer Kenntnisse auf dem Ge-
546
biet des Terrorismus ohne jeden Zweifel aus-
schließen, dass Corey Latham den Anschlag auf
Hill House verübt hat?«
Der Psychiater sann eine Weile über die Frage
nach. »Meine Forschungsarbeit kann immer nur
annähernde, keine definitiven Ergebnisse erbrin-
gen«, antwortete er dann. »In meinen Gesprä-
chen mit dem Angeklagten konnte ich keines der
Merkmale feststellen, die zu einem solchen
Verbrechen passen. Aber ich kann nicht ohne je-
den Zweifel ausschließen, dass er es begangen
hat.«
»Also könnte dieser Mann dort drüben«, sagte
Brian und wies auf den Angeklagten, »obwohl er
nicht die Struktur der Täterprofile aufweist und
nicht über die üblichen Merkmale verfügt, den-
noch Aspirin, Schwefelsäure und Dünger gekauft,
daraus eine Bombe gebaut, sie in einen Match-
beutel gesteckt und im Hill House deponiert ha-
ben?«
»Ich halte es nicht für wahrscheinlich«, erwiderte Stern, »aber die Möglichkeit besteht.«
»Ich danke Ihnen, Professor Stern«, sagte Brian.
»Keine weiteren Fragen.«
»Glaubst du, dass Brian die Wirkung von Sterns
Aussage zunichte gemacht hat?«, fragte Joan
Wills Dana, als sie gemeinsam zum Smith Tower
zurückgingen.
»Nicht wesentlich«, gab Dana zur Antwort.
»Wenn man gegen begründeten Zweifel anarbei-
547
tet, muss man mehr aufbieten
Weitere Kostenlose Bücher