Mein Wille geschehe
Sie waren
herzlich, ruhig und hilfsbereit. Man merkte, wie
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sehr sie ihren Sohn liebten, doch sie schienen ihn deshalb nicht zu verklären. Am Samstag, nach
dem Treffen mit Corey, ging Dana mit den beiden
in den »Hunt Club«, das traditionsreiche Restau-
rant im Sorrento Hotel. Das Essen dort war her-
vorragend, und die Angestellten hatten Erfahrung
im Abschirmen prominenter Gäste.
Während des Essens sprachen die Lathams über
Corey, über sich, über ihre Werte. Sie erzählten, was sie sich für ihre Kinder wünschten, und es
entging Dana nicht, wie stolz sie auf ihren Sohn
waren. Am Ende des Abends war Dana vollkom-
men überzeugt von der Aufrichtigkeit der Eltern.
Man hörte heutzutage viel von Eltern, die ihre
Pflichten vernachlässigten, und von Kindern, die
durchdrehten. Wenn Corey Latham durchgedreht
war, dann lag es gewiss nicht daran, dass seine
Eltern ihn vernachlässigt hätten.
Als Dana diesen Fall übernommen hatte, musste
sie unterstellen, dass Corey Latham unschuldig
war. In Wirklichkeit war sie allerdings davon ausgegangen, dass er die Tat begangen hatte. Nun,
eine Woche später, war sie sich dessen nicht
mehr so sicher. Sie hatte Paul Cotter gegenüber
vollmundig verkündet, dass die Staatsanwalt-
schaft ihre Anklage auf einer wackligen Beweisla-
ge aufgebaut hatte. Jetzt jedoch spürte sie zum
ersten Mal einen Anflug von Angst, als ihr klar
wurde, dass es womöglich einzig und allein von
ihr abhing, ob ein unschuldiger Mann zum Tode
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verurteilt wurde.
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Brian Ayres war seit sieben Jahren als Staatsan-
walt für Strafverfolgung im King County im Bun-
desstaat Washington tätig. Er war ein schlanker
mittelgroßer Mann, der über ein freundliches Lä-
cheln und eine unerschütterliche Begeisterung für das Leben im Allgemeinen und die Juristerei im
Besonderen verfügte und dessen alterslosem
Charme die wenigsten Menschen widerstehen
konnten. Er war vierzig, hatte jedoch bereits
graue Strähnen im Haar und tiefe Falten um die
braunen Augen. Die grauen Strähnen führte er
auf die Strapazen eines Daseins als fünffacher
Vater und die Falten auf das mühselige Entziffern von Anträgen der Verteidigung zurück. Doch weder das eine noch das andere vermochten seiner
Attraktivität und seinem dynamischen Auftreten
im Gerichtssaal etwas anzuhaben. Vor vierzehn
Jahren war er ein ehrgeiziger junger Anwalt ge-
wesen, der frisch von der University of Chicago
kam und sich ein enges Büro im fünften Stock
mit einer nicht minder ehrgeizigen Stanford-
Absolventin namens Dana Reid teilen musste.
»Hi, Punk«, begrüßte er sie jetzt, als sie den Kopf durch die Tür seines Büros streckte. »Hi, Dink«,
erwiderte sie daraufhin.
Diese Spitznamen hatten sie sich seinerzeit ge-
geben, als sie einmal feststellten, dass sie ohne Schuhe genau gleich groß waren.
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Sie hatten früher als Partner im selben Büro ein
freundschaftliches Verhältnis gehabt, nun hatten
sie ein freundschaftliches Verhältnis als Widersacher im Gerichtssaal. Als sie sich kennen lernten, war Brian bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Er dachte manchmal, dass ihre Beziehung
sich vielleicht anders entwickelt hätte, wenn er
damals noch ledig gewesen wäre. Dana war eine
jener selten vorkommenden Frauen, die nicht
wissen, wie schön sie sind, und sich vermutlich
auch nicht darum scheren würden, wenn sie es
wüssten. Für sie zählte nur ihre Arbeit, und Anerkennung wollte sie nur für ihren Intellekt.
Ein paar Mal im Jahr, wenn es ihre Terminkalen-
der zuließen, trafen sie sich zum Mittagessen. So hielten sie Kontakt und blieben auf dem Laufenden über das Leben auf der Gegenseite.
»Hätte nie gedacht, dass du so einen Fall anneh-
men würdest«, sagte Brian. Er musste sich ein-
gestehen, dass er insgeheim gehofft hatte, im
Fall des Anschlags auf Hill House leichtes Spiel zu haben. Und es wurmte ihn beträchtlich, dass es
diesem Latham gelungen war, eine Kanzlei mit
einem derartigen Renommee wie Cotter, Boland
und Grace auf den Plan zu rufen. »Ich auch
nicht«, gab Dana zu. »Wie bist du denn da rein-
geraten?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich war einfach dran,
schätze ich.« Er wickelte bedenklich mit dem
Kopf. In den zwei Jahren, in denen sie zusam-
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menarbeiteten, hatten sie oft und ausführlich ü-
ber Verteidiger geredet, die sich mit dem Teufel
einließen. »Du hättest auf der Seite der Engel
bleiben sollen«, bemerkte er.
»Das
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