Mein Wille geschehe
zweiten Dienstag im
August kurz vor neun Uhr morgens durchquerte
sie die Säulenhalle, ging durch eine der Drehtü-
ren, gab ihre Handtasche ab, um sie überprüfen
zu lassen, und begab sich in den siebten Stock.
Als sie aus dem Fahrstuhl in eine eindrucksvolle
ovale Halle trat, ging sie nach links und steuerte Raum C701 an, in dem potenzielle Geschworene
geprüft werden sollten. Am Freitag hatte man ihr
gesagt, dass man für den Latham-Prozess hun-
dertzwanzig Leute einbestellt hatte, was es noch
nie gegeben hatte. Fast alle schienen sich nun in 258
dem Raum zu drängen, in dem sich gewöhnlich
fünfzig Menschen aufhielten. Allison meldete sich an, sagte ihren Namen und gab die Nummer an,
die man ihr mitgeteilt hatte. Daraufhin bekam sie ein weißes Plastikschildchen, auf dem sie in gro-
ßen roten Buchstaben als Geschworene gekenn-
zeichnet wurde, und eine Nummer: 52. Sie steck-
te das Schildchen an ihre Jacke und ließ sich
dann auf einem leeren Stuhl an der Wand nieder.
Sie hatte rasch erkannt, dass die Anwesenden
aus unterschiedlichsten Einkommens-, Alters-
und Berufsgruppen stammten. Man sah Anzüge,
Kleider, Hauskleider und Jeans, Aktenkoffer, Ein-
kaufstaschen und Lunchboxen. Sie fragte sich,
wer wohl am Ende zu den zwölf Geschworenen
gehören würde.
Ein Mordprozess war spannend, fand sie, und
auch ein Ereignis, bei dem man alles sehr sorgfältig prüfen musste. Als sie, zum vierten Mal in
zehn Jahren, am Freitag im Gerichtsgebäude ein-
traf, hatte man ihr ein Klemmbrett mit zwei un-
terschiedlichen Fragebögen überreicht, die sie so präzise wie möglich beantworten sollte. Auf den
ersten Blick sah sie, dass sie mit einem solchen
Fragebogen noch nie zu tun gehabt hatte: Hier
wurden Seite um Seite auf unterschiedliche Art
nahezu intime Informationen verlangt. Es hätte
sie nicht gewundert, wenn man sich auch noch
nach ihrem Gewicht, ihren sexuellen Vorlieben
und einer etwaigen kommunistischen Vergangen-
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heit erkundigt hätte. Das machte sie neugierig,
und sie gab sich besondere Mühe beim Ausfüllen
der Bögen.
Als sie nun auf die nächste Phase der Prozessvor-
bereitung wartete, wurde ihr klar, dass sie im
Stande sein musste, diese Antworten auch münd-
lich vorzutragen, und so versuchte sie, sich daran zu erinnern, war jedoch nicht sicher, ob es ihr
gelingen würde.
Sie war auch nicht sicher, weshalb sie eigentlich hier saß. Sie hätte sich um diese Aufgabe, als
Geschworene aufzutreten, drücken können.
Dreimal bereits war es ihr gelungen, dieser Ver-
pflichtung durch Angabe beruflicher Gründe zu
entgehen. Doch diesmal hatte sie keine Entschul-
digung an der Hand gehabt und sich aus irgend-
einem Grund auch keine ausdenken wollen. Sie
fragte sich, ob sie vielleicht einfach deshalb am Latham-Prozess teilnehmen wollte, weil sie ein
besonderes Interesse an seinem Ausgang hatte.
Man konnte von Abraham Bendali, seines Zei-
chens Richter, wahrlich nicht behaupten, dass er
besonders milde Urteile fällte, aber seit fünfundzwanzig Jahren hatte er den Ruf, stets gerecht zu sein.
»Wir hätten es nicht besser treffen können«, sag-
te Brian Ayres zu Mark Hoffman, als sie hörten,
dass er den Vorsitz übernehmen würde. »Er war
mal einer von uns.«
»Es gibt Schlimmeres«, versicherte Dana Joan
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Wills. »Er ist streng, aber er kennt die Gesetze
besser als jeder andere, und er hält sich daran.«
Bendali war etwa eins neunzig groß und wog an-
geblich circa hundertvierzig Kilo, was mit seiner Kindheit zu tun hatte, in der er hungerte. Sein
Verstand stellte diese Verbindung her, doch seine Bedürfnisse waren anders. Seine Ärzte hatten es
schon lange aufgegeben, ihm zu raten, und seine
Frau hatte schon vor langer Zeit ein eigenes Bett bezogen, weil sie fürchtete, nachts versehentlich von ihm zerquetscht zu werden, wie sie sagte.
Der Richter war siebenundsechzig Jahre alt und
bislang mit einer guten Gesundheit gesegnet ge-
wesen. Er aß vorwiegend Obst, Gemüse und Ge-
treideprodukte, das allerdings in rauen Mengen.
Rotes Fleisch hatte er seit über fünfzehn Jahren
nicht mehr angerührt, und sein Cholesterinwert
war vorbildlich. Und jeden Morgen in der Dämme-
rung, ungeachtet des Wetters – was in Seattle
eine gewaltige Leistung war –, konnte man Ben-
dali auf dem Lake Washington erblicken, wo er
mit großen majestätischen Ruderschlägen seinen
Kajak weit auf den See hinausbewegte, um dann
wieder in sein Haus in
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