Mein Wille geschehe
sollte Sie wohl doch fragen –
glauben Sie mir?«
Dana starrte ihn an. Es gab auf diese Frage na-
türlich eine Routineantwort, nämlich, dass es
nicht ihre Aufgabe war, seine Unschuld zu be-
zweifeln, doch sie wusste, dass sie ihn damit
nicht abspeisen durfte.
»Ich mache mir gewöhnlich keine Gedanken über
Schuld oder Unschuld eines Mandanten, Corey«,
sagte sie schließlich. »Ich mache mir Gedanken
über den Fall und darüber, wie ich den Prozess
gewinnen kann. Oder, anders ausgedrückt: Ich
gehe von der Unschuld meines Mandanten aus,
weil das die Basis meiner Arbeit ist. Deshalb habe ich Sie nie gefragt, ob Sie die Bombe im Hill House gelegt haben oder nicht. Ich will es nicht wissen, um ehrlich zu sein.«
»Warum nicht?«
»Wenn Sie mir antworten würden, dass Sie die
Bombe gelegt und all diese unschuldigen Men-
schen getötet haben, würde das mein Vorhaben,
Sie zu verteidigen, erheblich behindern.«
»Inwiefern?«
»Nun, schauen wir mal. Zum einen dürfte ich Sie
nicht in den Zeugenstand rufen. Das wäre Auffor-
derung zum Meineid. Ich kann Sie nicht wissent-
lich unter Eid lügen lassen. Dafür könnte ich für immer Berufsverbot bekommen.«
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»Werden Sie mich in den Zeugenstand rufen?«
»Aber natürlich«, antwortete sie. »Sie sind mein
bester Zeuge. Und Sie werden den Geschworenen
genau dasselbe erzählen wie mir.«
»Und wenn Sie jemanden vertreten würden, der
schuldig ist, könnten Sie das nicht tun?«
»Nein. Wenn ich wüsste, dass mein Mandant
schuldig ist, würde ich stattdessen versuchen,
mildernde Umstände zu ermitteln, die ich den
Geschworenen anbieten könnte, wie zum Beispiel
verminderte Zurechnungsfähigkeit.«
»Was bedeutet das?«
»Wenn der Mandant das Verbrechen zugibt, aber
zum Zeitpunkt der Tat emotional so verändert
war, dass ihm nicht mehr klar war, was er tat. Er konnte also Recht und Unrecht nicht mehr unterscheiden. Wenn es eine einleuchtende Begrün-
dung gibt für diesen Geisteszustand und die An-
klage von vornherein auf vorsätzlichen Mord lau-
tet, die Geschworenen also die Option eines mil-
deren Strafmaßes nicht haben, könnten sie
durchaus beschließen, den Mandanten für nicht
schuldig zu erklären. Der Unterschied ist in die-
sem Fall dann der, dass der Verteidiger nicht versucht, die Beweislage der Anklage zu widerlegen,
wie er es tut, wenn er die Unschuld eines Man-
danten beweisen will, sondern er versucht, die
Tat zu rechtfertigen.«
»Sie meinen, wenn ich den Anschlag auf Hill Hou-
se tatsächlich verübt hätte, würden Sie den Ge-
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schworenen sagen, sie sollten mich freisprechen,
weil ich wegen der Abtreibung so außer mir war,
dass ich nicht mehr wusste, was ich tat?«
»So ungefähr«, gab Dana zur Antwort.
»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Mrs
McAuliffe«, sagte er fest und sah ihr in die Augen.
»Ich habe diese Menschen nicht getötet.«
Sie lächelte. »Das ist gut«, sagte sie. »Weil es
mir nämlich schwer fallen würde, die Geschwore-
nen davon zu überzeugen, dass Sie drei Monate
nach diesem Vorkommnis immer noch im Affekt
gehandelt haben.«
»Sie glauben mir doch, oder?«, fragte er leise.
»Nun, da es für Ihre Verteidigung nicht entschei-
dend ist und da ich sehe, wie viel es Ihnen be-
deutet«, antwortete Dana, »will ich es Ihnen sa-
gen: Ja, ich glaube Ihnen. Ich glaube nicht, dass Sie mit dem Anschlag auf Hill House etwas zu tun
hatten.«
Corey atmete so heftig aus, als habe er seit Mo-
naten die Luft angehalten. »Danke«, sagte er er-
leichtert. »Nun bin ich bereit für morgen. Ich
weiß, dass alles gut wird. Gott steht mir bei, und Sie stehen mir bei, und das ist das beste Team,
das man kriegen kann.«
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Das Gerichtsgebäude von King County nahm ei-
nen gesamten Straßenzug ein. Zwischen dem
zwölfstöckigen H-förmigen Bau und dem Gefäng-
nis befand sich das Gebäude der Bezirksverwal-
tung, doch es gab eine Verbindung zwischen den
beiden Bauten, einen überirdischen tunnelartigen
Gang, durch den man Angeklagte während des
Prozesses sicher von einem Ort zum anderen
bringen konnte. Das Gerichtsgebäude, in dem
seit 1930 Prozesse stattfanden, war aus weißen
Ziegeln und Granit im Stil der damaligen Zeit ge-
baut worden und wies die üblichen Merkmale auf:
einen von Säulen gesäumten Eingangsbereich,
hohe Räume, Stuckverzierungen und Marmorbö-
den.
Allison Ackerman allerdings hatte kaum ein Auge
für das alte Gebäude. Am
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