Mein wirst du bleiben /
damit die andern Lederles Bericht mithören konnten. Im Hintergrund brummte der Motor eines fahrenden Autos.
»Die Nachtschwestern im Pflegeheim hatten zu tun, meinten, wir sollen in einer halben Stunde wiederkommen. Also sind wir zu der Villa gefahren, in der die Roths früher gewohnt haben. Nur mal so, eigentlich. Bei den Nachbarn lief gerade eine Party. Ein Schuppen, aus dem die Kohle quasi zu den Sicherheitsglasfronten herausquillt. Die haben uns reingewunken und Champagner in die Hand gedrückt, ohne zu fragen, wer wir sind. Nun ja« – Ehrlinspiel hörte ihn förmlich grinsen –, »die wussten mein Outfit wenigstens zu schätzen.«
»Und?« Er sah zu Josianne, die Notenbücher aus dem Regal zog und darin blätterte.
»Die junge Roth war doch mal Referendarin. Schuldienst.«
»Ja.« Ungeduldig nahm er das Handy ans andere Ohr.
»Sie war gerade damit fertig, sagt der Nachbar, als die Mutter den Unfall hatte. Sein Sohn ging damals auf dasselbe Gymnasium. Sie unterrichtete ihn in Religion. Der Vater meinte wörtlich: ›Ein Segen für die Schüler, dass die weg war. Die hatte doch einen Schuss. Auch wenn’s mir um die Mutter wirklich leidgetan hat.‹ Miriam war laut ihm völlig introvertiert und dann plötzlich wieder hysterisch. Das klassische Opfer für pubertierende Schüler. Sie ist anscheinend gemobbt worden. Nach dem Unfall hat sie die Nachbarn, zu denen sie schon vorher nur flüchtig Kontakt hatte, immer mehr ignoriert. Wenn man sie nach der Mutter gefragt hat, ist sie ohne Gruß oder andere Reaktion davongehuscht.«
Genau so hatte Ehrlinspiel sie erlebt. An der Kirche. Am Hauseingang.
»Und dann war sie einfach weg«, berichtete Frank Lederle. »Ausgezogen. Das Haus wurde verkauft, das wissen wir ja. Niemand hat gewusst, was aus den Frauen geworden ist. Der Nachbar musste erst mal seinen Champagner auf ex trinken, als wir es erzählt haben. Und ein zweites Glas, als wir erwähnten, dass sie in dem Haus der beiden Mordopfer lebt. Der Mann ist richtiggehend bleich geworden. Ich glaub fast, wir haben die Party gesprengt.«
Josianne zog weitere Notenbücher heraus. Buxtehude. Tschaikowski. Händel. »Und das Pflegeheim?«, fragte sie laut, ohne aufzusehen.
Frank musste sie gehört haben, denn er fuhr fort: »Jetzt kommt’s. Eine der Schwestern hat die Augen verdreht, als wir Miriams Namen gesagt haben. Sie sagt, Miriam sei jeden Tag bei Thea gewesen. Zuerst habe alles ganz normal gewirkt. Aber dann habe sie angefangen, laut zu singen, pausenlos mit der Mutter zu reden, sie zu streicheln, sei immer seltener nach Hause gegangen. Nachts habe sie oft geschrieben, gesummt und gebetet und sich laut mit irgendwelchen Unbekannten unterhalten. ›Ja, das werde ich tun‹ und ›Du bist mein Herr‹, solche Sachen. Man hat sie manchmal aus dem Zimmer schicken müssen. Irgendwann sei sie dann zu der Mutter ins Bett gekrochen, als es dieser schlechtging und der betreuende Arzt ihr gesagt hatte, dass Thea es nicht schaffen würde. Da habe sie angefangen, das Personal zu beschimpfen, habe gekreischt und getobt, von wegen das sei eine Verschwörung und sie hätte schon lang bemerkt, dass sie beobachtet würde. Sie habe auf die Überwachungsmonitore am Bett eingeschlagen und ›Komplott, Komplott‹ gebrüllt, und in der nächsten Sekunde sei sie wieder ruhig gewesen und habe die flackernden Linien und Anzeigen angelächelt, sich direkt vor die Monitore gestellt und gesagt: ›Wenn du mich führst, Herr.‹«
»Verflucht«, rutschte es Ehrlinspiel heraus.
»Sozusagen. Die Schwester hat Miriam ein paar Mal etwas gegeben, weil sie ihr leidgetan hat und sie selbst keine Hilfe suchte.« Franks Stimme ging kurz im Hupen eines Autos unter. »Es war etwas schwierig, sie zum Reden zu bringen. Wir haben ihr versprochen, deswegen nichts zu unternehmen. Es war ein Medikament. Haloperidol. Sie war sich mit der Diagnose sicher.«
»Und die wäre?«
»Schizophrene Psychose.«
»Gespaltene Persönlichkeit?« Eine liebende Tochter und eine eiskalte Mörderin? Also doch? Ehrlinspiel rieb sich über die Stirn. Josianne Schneider schien weder mit Müdigkeit noch mit Multitasking Probleme zu haben. Sie hörte zu und schlug gleichzeitig ein blaues Notenbuch auf.
J. S. Bach, Chromatische Fantasie und Fuge
las Ehrlinspiel.
»Darauf bin ich auch reingefallen«, sagte Lederle. »Schizophrenie bedeutet nicht, dass eine Persönlichkeit sich in mehrere spaltet, sondern dass die Seele sich vom Menschen trennt. Zumindest dem
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